Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Gehbehinderung. behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens. Persönlichkeitsstörung. Untergewicht. fehlende Verordnungsermächtigung für Merkzeichen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen. sozialgerichtliches Verfahren. Auslegung eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz als Klageerhebung. einander widersprechende Gutachten. keine Pflicht des Gerichts zur Einholung eines Obergutachtens

 

Orientierungssatz

1. Die Auslegung des Schriftsatzes eines anwaltlich nicht vertretenen Klägers kann ergeben, dass dieser über den ausdrücklich genannten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hinaus auch Klage gegen einen ablehnenden Widerspruchsbescheid erhebt.

2. Die in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind hinsichtlich der getroffenen Regelungen für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche der erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (G), Gehörlosigkeit (Gl), Berechtigung für eine ständige Begleitung (B), außergewöhnliche Gehbehinderung (aG) und Blindheit (Bl) unwirksam, da es insoweit an einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung fehlt (so auch LSG Stuttgart vom 9.5.2011 - L 8 SB 2294/10).

3. Soweit eine vorliegende Persönlichkeitsstörung den schwerbehinderten Menschen nur subjektiv in seinem Gehvermögen einschränkt (hier: subjektive Überzeugung, nur wenige hundert Meter gehen zu können, und daraus resultierendes Vermeidungsverhalten), ist seine Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern aus anderen - nicht zu berücksichtigenden - Gründen beeinträchtigt (vgl LSG vom 12.10.2011 - L 6 SB 3032/11 und BSG vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 7/06 R = SozR 4-3250 § 146 Nr 1).

4. Allein aus dem Vorliegen von Untergewicht kann nicht geschlossen werden, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt sind.

5. Liegen einander widersprechende Gutachten vor, besteht keine Verpflichtung des Gerichts, ein "Obergutachten" einzuholen (vgl BSG vom 1.4.2014 - B 9 V 54/13 B).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 12.05.2015; Aktenzeichen B 9 SB 93/14 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 9. August 2013 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens G vorliegen und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten beider Instanzen sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens “erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr„ (G) streitig.

Die am 16.09.1969 geborene Klägerin hat eine Ausbildung als Erzieherin gemacht hat, in diesem Beruf jedoch nur einige Monate gearbeitet hat, sodann mit Zeiten der Arbeitslosigkeit mehrere verschiedene Tätigkeiten, häufig nur einige Monaten anhaltend, ausgeübt. So war die Klägerin bei der D. als Aushilfskraft, Codierkraft , in der Brieffrachtzustellung, als gemeindliche Vollzugsbeamtin, Angestellte im Call-Center, Agentin im Bereich Steuerrückführung, Kauffrauliche Angestellte im Bereich Mobilfunk, Koordinatorin, Telefonreferentin, Junior-Operatorin im technischen Kundendienst sowie verschiedenen Tätigkeiten auf geringfügiger Basis tätig. Erstmals mit Bescheid vom 11.06.2003 hat der Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) seit 01.01.2002 wegen Taubheit links, Schwerhörigkeit rechts, Augenmuskellähmung links, funktionellen Organbeschwerden und Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und Wirbelsäulenverformung mit 30 festgestellt. Die Klägerin bezieht inzwischen eine Erwerbsminderungsrente (Leistungsfall 03.06.2002) und ergänzende Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Mit Änderungsantrag vom 02.11.2007 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB wegen Verschlimmerung sowie die Feststellung des Merkzeichens G, des Nachteilsausgleichs wegen Gehörlosigkeit (Merkzeichen Gl) sowie des Nachteilsausgleichs “Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht„ (Merkzeichen RF). Der Beklagte zog unter anderem das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 05.02.2004 von dem Rentenversicherungsträger (damals BfA) bei und holte Stellungnahmen bei der behandelnden Ärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. M. und dem Facharzt für Orthopädie Dr. S. ein. Mit Bescheid vom 13.02.2008 wurde der Antrag auf Neufeststellung des GdB sowie Feststellung von gesundheitlichen Merkmalen (Merkzeichen) abgelehnt. Im Rahmen des hiergegen eingelegten Widerspruchsverfahrens legte die Klägerin ein ebenfalls für die Rentenversicherung erstelltes Gutachten von Dr. W., Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, vom 29.01.2004 und ein Ton- sowie Sprachaudiogramm vom 07.04.2008 vor. Daraufhin wurde nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. (Taubheit links, Schwerhörigkeit rechts Teil-GdB 60, Augenmuskellähmung links Teil-GdB 10, funktionelle Organbeschwerden, seelische St...

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