Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Verletztenrente. MdE-Bewertung. unfallbedingte Funktionsbeeinträchtigung. Feststellung eines Schädel-Hirn-Traumas. Voraussetzung. Abgrenzung zur Schädelprellung. Entstehung einer Dysthymia. medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand. Vorhandensein einer Entstellung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Feststellung eines Schädel-Hirn-Traumas setzt insbesondere eine durch eine gewaltsame Einwirkung hervorgerufene Funktionsstörung oder Verletzung des Gehirns voraus. Eine traumatische Verletzung des Kopfes ohne Hirnfunktionsstörung oder Gehirnverletzung ist dagegen als Schädelprellung einzustufen.
2. Nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand ist die Entstehung einer Dysthymia, wie auch anderer Erkrankungen des depressiven Formenkreises nicht auf einzelne Einwirkungen, sondern eine Wechselwirkung aus biologischen und psychosozialen Faktoren zurückzuführen (sog multifaktorielles Erklärungskonzept).
3. Eine Entstellung ist nicht in jedweder ungewollten und allgemein sichtbaren Änderung des äußeren Erscheinungsbildes, etwa durch eine Narbe im Gesicht, zu sehen. Es ist vielmehr im konkreten Einzelfall festzustellen, ob hierdurch eine bedeutsame Abweichung von der Norm gesellschaftlicher Ästhetikvorstellungen eintritt.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 11. Juli 2018 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten hat die Beklagte in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beklagte und Berufungsklägerin wendet sich gegen ihre Verurteilung zur Gewährung einer Verletztenrente zugunsten des Klägers nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert (v.H.) ab dem 16. September 2013 und die Feststellung weiterer Folgen eines Arbeitsunfalls vom 17. April 2013.
Der am … 1973 geborene Kläger ist Staatsangehöriger Bosnien-Herzegowinas, verheiratet und Vater zweier Kinder. Bevor er 1992 in die Bundesrepublik Deutschland auswanderte, hat er in seinem Heimatland eine vierjährige Berufsausbildung im Bereich Maschinenbau absolviert. Seit dem Jahr 2001 ist er als Maschinenbediener in Vollzeit, ursprünglich im Bereich Schmiede, bei einem Automobilhersteller, einem Mitgliedsunternehmen der Beklagten, beschäftigt, das er mit einer jeweils halbstündigen Autofahrt aufsucht. Einmal pro Woche spielt er aktiv Fußball, geht gerne mit der Familie spazieren und begleitet seine Kinder zum Fußball bzw. Musikunterricht.
Am 17. April 2013 blieb im Rahmen eines Schmiedeversuchs die vom Kläger bediente Schmiedepresse aufgrund einer Störung stehen und dadurch der Abgrat (ein bei der Bearbeitung entstehender und überschüssiger Material-, insbesondere Metallrest) am Schmiedewerkzeug hängen. Als der Kläger diesen Abgrat mit Hammer und Brecheisen entfernen wollte, löste sich ein Metallsplitter (Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 22. April 2013) und fügte ihm im Stirnbereich eine Impressionsfraktur der Schädelkalotte links frontal zu (Bericht des Radiologen Dr. H. K. Krankenhaus W., vom 17. April 2013). Der Kläger entfernte das ihm in der Stirn steckende Metallteil selbst (Durchgangsarztbericht des Prof. Dr. H., Neurochirurgische Abteilung des K. W.). Ausweislich eines Berichts des Priv.-Doz. Dr. S., Chefarzt der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des K. Krankenhauses W., vom 18. April 2013, sei weder eine initiale Bewusstseinsstörung, eine Erinnerungslücke durch das Trauma oder Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel oder Kopfschmerzen aufgetreten. Es sei ein offenes Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades zu diagnostizieren, nach der Glasgow-Koma-Skala bestanden bereits bei der erstmaligen Prüfung um 14.30 Uhr, eine halbe Stunde nach dem Unfall, keine Bewusstseinsstörungen. Noch am Unfalltag erfolgte eine operative Hebung der Impressionsfraktur. In einer notfallmäßig durchgeführten kranialen Computertomographie (CCP) stellte sich die Impressionsfraktur links frontal mit Beteiligung der Sinus frontalis (Stirnhöhle) und eine winzige epidurale Blutung dar. Klinisch-neurologisch zeigte der Kläger keine Auffälligkeiten. Auch eine Verlaufs-CCP vom 24. April 2013 ergab einen regelrechten postoperativen Befund, so dass der Kläger an diesem Tag in sehr gutem klinisch-neurologischen Zustand in die ambulante Betreuung entlassen werden konnte (Bericht des Prof. Dr. H. vom 24. April 2013).
In der nachfolgenden tagesstationären neurologischen Anschlussheilbehandlung ab dem 29. April 2013 bis zum 14. Juni 2013 im Reha-Zentrum H., B., teilte der Kläger mit, eine deutliche Verminderung der allgemeinen Belastbarkeit und der Ausdauer, besonders beim Treppenlaufen, zu bemerken. Er beklagte eine Nackensteife und Verspannung im Schultergürtel sowie gelegentlich auftretende Kopfschmerzen. Weiter äußerte er Ängste, an der bewussten Maschine zu arbeiten, da er befürchte, wieder einen Unfall zu erleiden. Er dürfe derzeit keine schweren Teile heben, um den intrakranialen Druck nicht...