Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rückerstattungsstreit zwischen gesetzlichem Krankenversicherungsträger und Berufsgenossenschaft gem § 112 SGB 10. Erlöschen des Erstattungsanspruchs gem § 111 S 1 SGB 10. Anwendbarkeit des § 111 S 2 SGB 10. Auslegung: Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht. Differenzierung: Versicherungsfall. Leistungsfall. unzulässige Rechtsausübung. fahrlässig falschen Rechtsinterpretation. Verwirkung. bloße Untätigkeit
Orientierungssatz
1. Die Feststellung einer Berufskrankheit kann allein nicht zur Anwendbarkeit des § 111 S 2 SGB 10 führen, da sie von den Entscheidungen über konkret zu gewährende Leistungen zu unterscheiden ist (Anschluss an BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 4/09 R = UV-Recht Aktuell 2010, 637).
2. Die Korrektur einer Verwaltungspraxis, die auf einer fahrlässig falschen Rechtsinterpretation beruhte, ist kein ausreichender Grund, eine unzulässige Rechtsausübung anzunehmen.
3. Bloße Untätigkeit, insbesondere in Folge Verkennung der Rechtslage, stellt kein treuwidriges Verwirkungsverhalten dar.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 19.06.2014 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 15.305,59 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rückerstattung eines Betrags iHv 15.305,59 € gemäß § 112 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).
Die klagende Berufsgenossenschaft ist die Rechtsnachfolgerin der BG Chemie. Am 05.01.2005 unterrichtete diese die Rechtsvorgängerin der Beklagten - die Bayer BKK - über die Einleitung eines Berufskrankheiten-Feststellungsverfahrens wegen der obstruktiven Atemwegserkrankung des H. R. (im Folgenden: Versicherter) und mit Schreiben vom 02.01.2006 über die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr 4302 der Anlage der Berufskrankheiten-Verordnung informiert.
Mit Schreiben vom 02.02.2006, bei der Klägerin eingegangen am 06.02.2006, machte die Rechtsvorgängerin der Beklagten einen Erstattungsanspruch iHv 17.761,29 € geltend, den sie mit Schreiben vom 29.03.2006 auf den Betrag von 16.270,65 € korrigierte (zu den Einzelheiten wird auf Bl 6 und Bl 181 der SG-Akte Bezug genommen). Mit Schreiben vom 22.08.2007, bei der Rechtsvorgängerin der Klägerin eingegangen am 28.08.2007, begehrte die Rechtsvorgängerin der Beklagten eine weitere Erstattung für Arztbehandlungskosten, die in der Zeit vom 23.03.2004 bis 29.09.2005 iHv 320,60 € erbracht wurden (vgl Bl 183f der SG-Akte). Die Klägerin beglich die von der Rechtsvorgängerin der Beklagten geltend gemachten Erstattungsansprüche am 05.04.2006 und 03.09.2007.
Mit Schreiben vom 12.10.2010 wies die Klägerin auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.03.2010 (B 2 U 4/09 R) hin und machte einen Rückerstattungsanspruch iHv 15.145,75 € bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten geltend. Die Erstattung von Leistungen, die vor dem 06.02.2005 erbracht worden seien, sei ausgeschlossen. Es hätten daher nur Kosten iHv 1.124,90 € erstattet werden können. Die Beklagte bestätigte den Eingang des Schreibens der Klägerin und verzichtete auf die Einrede der Verjährung (Schreiben vom 09.11.2010). Mit Schreiben vom 21.10.2011 setzte die Beklagte der Klägerin eine Frist bis zum 30.11.2011 zur Begleichung des Rückerstattungsanspruchs.
Mit ihrer am 18.05.2012 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren iHv 15.305,59 € fort. Sie beruft sich dabei auf die Entscheidung des BSG vom 16.03.2010 (B 2 U 4/09 R). Danach sei erstmalig eine Anmeldung der Erstattungsforderung der Beklagten vom 07.01.2008 erfolgt. Wegen Fristablauf sei zu diesem Zeitpunkt die Erstattung folgender Leistungen, die die Beklagte bis zum 16.02.2005 erbracht habe, nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen gewesen:
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anteilige Medikamente (16.270,65 € - 1.124,90 €) |
15.145,75 € |
anteilige Arztkosten (vom 23.03.2004 bis 07.12.2004) |
159,84 € |
insgesamt |
15.305,59 € |
Mit Urteil vom 19.06.2013 hat das SG der Klage stattgegeben. In der Geltendmachung des Rückerstattungsanspruchs sei keine unzulässige Rechtsausübung zu erkennen. Auch die Voraussetzungen einer Verwirkung des Anspruchs seien nicht erfüllt. Das Urteil wurde der Beklagten mittels Empfangsbekenntnis am 15.07.2013 zugestellt.
Am 09.08.2013 hat die Beklagte hiergegen Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhoben. Zwar sei der Rückforderungsanspruch grundsätzlich begründet. Es stehe ihm jedoch der Einwand der Verwirkung entgegen. Sämtliche Erstattungsansprüche, welche Leistungsfälle ab dem Jahr 2001 beträfen, seien von der Klägerin beglichen worden, obwohl sie nach dem BSG-Urteil vom 06.03.2010 verspätet angemeldet worden seien. Das Vertrauen der Beklagten gegenüber der Klägerin, dass diese bereits vorgenommene Erstattungen nicht zurückfordern würde, sei schutzwürdig. Die Zahl der Verdachtsfälle der tatsächlich anzuerkennenden Berufskrankheit sowie der zwischen den Parteien zu...