Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Folgenabwägung. verfassungskonforme Auslegung bei existenzsichernden Leistungen. Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. vorherige Zusicherung des Grundsicherungsträgers im Hinblick auf einen Umzug bzw die Übernahme von Unterkunftskosten für eine neue Unterkunft

 

Orientierungssatz

1. Der vorherigen Zusicherung im Sinne des § 22 Abs 4 SGB 2, bei der es sich um einen Verwaltungsakt handelt (vgl BSG vom 22.11.2011 - B 4 AS 219/10 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 57), kommt die Funktion zu, vor einem Umzug zu klären, ob die ggf höheren Kosten einer neuen Unterkunft übernommen werden. Die Regelung dient damit auch dem Schutz des Hilfebedürftigen vor den weitreichenden Konsequenzen einer etwaigen "Deckelung" der Unterkunftskosten gemäß § 22 Abs 1 S 2 SGB 2 (vgl BSG vom 30.8.2010 - B 4 AS 10/10 R = BSGE 106, 283 = SozR 4-4200 § 22 Nr 40).

2. Zur einstweiligen Anordnung der Erteilung einer Zusicherung gemäß § 22 Abs 4 SGB 2 für eine konkret nachgewiesene, noch nicht angemietete, aber noch verfügbare neue Unterkunft im Rahmen der Folgenabwägung unter Berücksichtigung der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG bei existenzsichernden Leistungen, wenn die Anmietung der konkreten Unterkunft auch nach Aussage des Vermieters nur unter Zusicherung möglich ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. November 2021 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern mit Wirkung vom 1. Januar 2022 eine Zusicherung zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die Wohnung Grpfad ,  B, zu erteilen. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in beiden Instanzen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; soweit das Sozialgericht (SG) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das erstinstanzliche Verfahren abgelehnt hat, ist die Beschwerde nicht begründet und war zurückzuweisen. Der Antragsgegner war in Gestalt einer gerichtlichen Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einstweilen zu verpflichten, den Antragstellern eine Zusicherung zu den Aufwendungen der im Tenor bezeichneten Wohnung zu erteilen (Wohnfläche 68,01 m²; Bruttokaltmiete mtl 888,89 €; Heiz- und Warmwasserkosten mtl 121,19 €).

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig. Es besteht insbesondere ein Rechtsschutzbedürfnis für die begehrte einstweilige Anordnung, da ein Umzug bislang nicht erfolgt und auch noch kein Mietvertrag abgeschlossen worden ist, und zwar ungeachtet dessen, dass die erstrebte Zusicherung keine Anspruchsvoraussetzung für die Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) iSv § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) ist (vgl zu der gleichlautenden Vorgängerregelung in § 22 Abs. 2 SGB II in der bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung schon Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 10/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 2 - Rn 27). Denn der Zusicherung gemäß § 22 Abs. 4 SGB II, bei der es sich um einen Verwaltungsakt handelt (vgl BSG, Urteil vom 22. November 2011 - B 4 AS 219/10 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 57 - Rn 11 mwN), kommt die Funktion zu, vor einem Umzug zu klären, ob die höheren KdUH übernommen werden. Die Regelung dient damit ua auch dem Schutz des Hilfebedürftigen vor den weitreichenden Konsequenzen einer etwaigen „Deckelung“ nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II (vgl BSG, Urteil vom 30. August 2010 - B 4 AS 10/10 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 40 - Rn 17). Die Antragsteller beziehen sich auch auf ein konkretes Wohnungsangebot (vgl zu diesem Erfordernis etwa BSG, Urteil vom 25. April 2018 - B 14 AS 21/17 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 95 - Rn 23). Die Wohnung ist nach Auskunft der Vermieterin - Deutsche Wohnen - auch noch verfügbar.

Mit der vorläufigen Verpflichtung des Antragsgegners ist zudem keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache verbunden, da eine endgültige Klärung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens sowohl nachträglich möglich als auch zumutbar ist. Einem Hauptsacheverfahren nach erfolgtem Umzug zur speziellen Frage, ob die beantragte Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II zu Recht oder zu Unrecht abgelehnt wurde, fehlte jedenfalls im Hinblick auf die ggf nicht vom Antragsgegner übernommenen tatsächlichen Aufwendungen für die neue Unterkunft nicht das Rechtsschutzbedürfnis (vgl BSG, Urteil vom 22. November 2011 - B 4 AS 219/10 R - Rn 12; anders möglicherweise bei bereits anhängigem sozialgerichtlichen Verfahren zur Höhe der KdUH BSG, Urteil vom 6. April 2011 - B 4 AS 5/10 R - juris - Rn 14f; vgl zum Ganzen auch Sächsisches Landessozialgericht ≪LSG≫, Beschluss vom 15. Dezember 202...

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