Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss spanischer Staatsangehöriger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Arbeitnehmergemeinschaft im Sinne der europäischen Vorschriften. Anwendbarkeit des Europäischen Fürsorgeabkommens. Europarechtskonformität. Wirksamkeit einer Vorbehaltserklärung gegen die Anwendung neuer Rechtsvorschriften nach der Wiener Vertragsrechtskonvention und dem Europäischen Fürsorgeabkommen
Orientierungssatz
1. Ein EU-Ausländer, ist nicht gem § 7 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 SGB 2 von den Leistungen nach dem SGB 2 ausgeschlossen, wenn er nach seiner Einreise zum Zweck der Arbeitsuche eine geringfügige Beschäftigung i.S. des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB 4 aufgenommen und damit ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU 2004 begründet hat.
2. Als Arbeitnehmer i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU 2004 ist auch anzusehen, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als im betreffenden Mitgliedstaat als Existenzminimum angesehen wird; außer Betracht bleiben lediglich Tätigkeiten, mit einem geringen Umfang der Arbeitszeit von wöchentlich drei bis zu zehn Stunden, so dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.
3. Die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 ist europarechtskonform.
4. Der von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 erklärte Vorbehalt nach Art 16 Buchst b EuFürsAbk gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen nach SGB 2 ist wirksam und schließt Staatsangehörige der Signatarstaaten (hier Spanien) vom Leistungsbezug aus, Entgegen LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 20.Juni 2012 - L 19 AS 1294/12 B ER und vom 09.Mai 2012 - L 19 AS 794/12 B ER.
5. Soweit es sich bei den Leistungen nach dem SGB 2 nicht um "besondere beitragsunabhängige" im Sinne des Art. 70 Abs. 2 VO 883/04 handelt, sie reine Fürsorgeleistungen sind, sind sie weiterhin bereits nach Art. 3 Abs. 5 VO 883/04 nicht von den Koordinierungsvorschriften erfasst. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 regelt allein einen Ausschluss von reinen Fürsorgeleistungen i. S. des Art. 3 VO 883/2004, Anschluss an LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 10. Mai 2012 - L 20 AS 802/12 B ER.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. April 2012 geändert.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt M A, K . , B, beigeordnet.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der 1974 geborene Antragsteller ist spanischer Staatsbürger und seit Februar 2011 in der Bundesrepublik Deutschland gemeldet. Zunächst war er ohne festen Wohnsitz, ab 1. September 2011 wohnt er unter der im Rubrum angegebenen Adresse. Der Antragsteller ist im Besitz einer vom Bezirksamt Neukölln von Berlin ausgestellten Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU vom 15. April 2011. Im Mai 2011 stellte der Antragsteller erstmalig einen Leistungsantrag bei dem Antragsgegner. Dem Antrag fügte er eine Erklärung bei, wonach er in B bis jetzt überlebt habe, weil er in Spanien sein Auto verkauft habe. Mit Bescheid vom 31. Mai 2011 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für die Zeit vom 1. Mai 2011 bis 30. September 2011 Leistungen zur Grundsicherung des Lebensunterhalts in Höhe von insgesamt 328,- € monatlich. Mit Änderungsbescheid vom 31. August 2011 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller unter nunmehriger Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft für die Zeit vom 1. September 2011 bis 30. September 2011 Leistungen in Höhe von insgesamt 699,12 €. Auf seinen Folgeantrag bewilligte ihm der Antragsgegner für die Zeit vom 1. Oktober 2011 bis 31. März 2012 Leistungen von monatlich insgesamt 699,12 € (Bescheide vom 31. August 2011 und 22. September 2011). Mit weiterem Änderungsbescheid vom 22. September 2011 bewilligte der Antragsgegner für die Zeit vom 1. Mai 2011 bis 31. August 2011 unter Berücksichtigung der Krankenversicherung bei der AOK Nordost Leistungen in Höhe von insgesamt 328,- € und für die Zeit vom 1. September 2011 bis 31. August 2011 Leistungen in Höhe von insgesamt 699,12 €.
Am 1. März 2012 beantragte er bei dem Antragsgegner erneut Leistungen nach dem SGB II Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 27. Februar 2012 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB II ab. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 19. Oktober 2010 (Az. B 14 AS 23/10) entschieden, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für Staatsangehörige von Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) keine Anwendung finde. Aus diesem Grund seien Lei...