Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitssuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger. Portugal. Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses. Vereinbarkeit mit dem Europäischen Fürsorgeabkommen. Freizügigkeit. Gleichbehandlung. Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung von neuen Rechtsvorschriften. Beitragsunabhängige Geldleistungen. Einstweilige Anordnung

 

Orientierungssatz

1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 verstößt nicht gegen das Europäische Fürsorgeabkommen.

2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG - sog. Unionsbürgerrichtlinie - gedeckt, soweit Leistungen zum Lebensunterhalt begehrt werden.

3. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist mit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - VO 883/2004 vereinbar.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; EG-VO 883/2004 Art. 1 Buchst. l, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1; VO (EG) 883/2004 Art. 3 Abs. 3, Art. 4, 70; EFA Art. 1; EFA Art. 11 Abs. 1, Art. 16b S. 2; EGRL 38/2004 Art. 24 Abs. 2; SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. April 2012 aufgehoben.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin - Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin A W, W, B, beigeordnet.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der 1981 geborene Antragsteller, ein portugiesischer Staatsbürger, ist seit Oktober 2011 in der Bundesrepublik Deutschland unter der im Rubrum angegebenen Adresse, einem Wohnheim, gemeldet. In einer “Eidesstattlichen Versicherung„ vom 22. März 2012 gibt er an, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in B zu haben. Nach eigenen Angaben habe er in Portugal als Bauingenieur gearbeitet, zuletzt aber aufgrund der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens kein Gehalt erhalten.

Am 6. Februar 2012 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Mit Bescheid vom 23. Februar 2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ab. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen lägen nicht vor, weil der Antragsteller lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland habe.

Dagegen erhob der Antragsteller am 9. März 2012 Widerspruch mit der Begründung, er könne sich zum einen als portugiesischer Staatsbürger auf das Europäische Fürsorgeabkommen berufen. Die nachträgliche Erklärung des Vorbehalts der Bundesrepublik Deutschland sei völkerrechtswidrig und damit nichtig. Im Übrigen leite er einen Anspruch aus der Verordnung 883/2004/EG) ab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2012 wies der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet zurück. Es sei unerheblich, dass die Ablehnung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gestützt worden sei. Denn Leistungen könnten bereits mangels örtlicher Zuständigkeit nicht bewilligt werden. Die Meldebestätigung vom 5. Oktober 2011 bezüglich einer gewerblichen Zimmervermietung gelte gemäß Punkt 3 der Ausführungsvorschriften über die örtliche Zuständigkeit für die Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII nicht als wohnsitzbegründend. Nach Punkt 6 Abs. 3 der Ausführungsvorschriften richte sich die örtliche Zuständigkeit nach dem Geburtsdatum; zuständig sei danach das Jobcenter Lichtenberg.

Bereits am 12. März 2012 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Berlin beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Leistungserbringung nach dem SGB II zu verpflichten.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 2. April 2012 verpflichtet, dem Antragsteller ab 12. März 2012 für die Dauer von sechs Monaten, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 674,00 € monatlich zu gewähren. Zunächst sei darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller im Hinblick auf die vorgelegten Kontoauszüge einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht habe. Er verfüge weder über nennenswerte Vermögenswerte noch über Einkommen. Der Antragsteller habe auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greife nicht. Diese Norm sei im Hinblick auf Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) europarechtskonform d...

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