Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. keine Folgenabwägung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität. Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung gem Art 16 Buchst b EuFürsAbk. Rechtsstaatsprinzip. Bindung an Gesetz und Recht

 

Orientierungssatz

1. Der Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bei Aufenthalt zur Arbeitsuche gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 auch für ausländische Unionsbürger steht nicht im Widerspruch zu geltendem Europa- und Völkerrecht. Insoweit ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über vorläufige Leistungsgewährung keine Folgenabwägung vorzunehmen. Eine Nichtanwendung der gesetzlichen Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 würde gegen die Bindung an Gesetz und Recht gem Art 20 Abs 3 GG verstoßen.

2. Az der Verfassungsbeschwerde beim BVerfG: 1 BvR 2778/13

 

Nachgehend

BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 04.10.2016; Aktenzeichen 1 BvR 2778/13)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 1. August 2013 geändert.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin - Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt M W, O. Straße, B, beigeordnet.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Beschluss den Antragsgegner zu Unrecht vorläufig zur Leistung verpflichtet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragstellerin das Bestehen eines zu sichernden Rechts (den so genannten Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den so genannten Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG, § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO). Auch im Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (OVG Hamburg, NVwZ 1990, 975).

Für die von der Antragstellerin begehrten Zeiträume vom 22. Juli 2013 bis zur Entscheidung des erkennenden Senates steht der Antragstellerin ein Anordnungsgrund nicht zur Seite. Derartige Ansprüche für die Vergangenheit können regelmäßig nicht im Wege eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens anerkannt werden. Diese sind in einem Hauptsacheverfahren geltend zu machen. Etwas Anderes kann nur dann in Betracht kommen, wenn die sofortige Verfügbarkeit von für zurückliegende Zeiträume zu zahlenden Hilfen zur Abwendung eines gegenwärtig drohenden Nachteils erforderlich ist. Hierzu sind Tatsachen von der Antragstellerin jedoch weder glaubhaft gemacht worden noch sonst für das Gericht ersichtlich.

Selbst wenn - zumindest für die Zukunft - ein Anordnungsgrund bejaht werden würde, ergibt sich keine andere Beurteilung, und zwar auch, wenn auf einen früheren Zeitpunkt als den der gerichtlichen Entscheidung abgestellt würde.

Denn dann scheitert das Begehren, ebenso wie für Zeiträume ab Entscheidung des Senats, zumindest an einem nicht glaubhaft gemachten Anordnungsanspruch.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

2. erwerbsfähig sind,

3. hilfebedürftig sind und

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben

(erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,

3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt (§ 7 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB II).

Nach diesen Regelungen...

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