Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Prozesskostenhilfe. hinreichende Erfolgsaussicht. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Ermessensreduzierung auf Null nach mehr als sechsmonatigem Aufenthalt. Abhängigkeit der Ausreisepflicht von Unionsbürgern von einer Verlustfeststellung der Ausländerbehörde
Leitsatz (amtlich)
1. Im Rahmen einer Ermessensentscheidung über Leistungen der Sozialhilfe nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII kann bei Unionsbürgern zu beachten sein, dass ihre Ausreisepflicht von einer Verlustfeststellung zum Aufenthaltsrecht durch die Ausländerbehörde (§ 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU; juris: FreizügG/EU 2004) abhängt.
2. Ob sich eine "Ermessensreduzierung auf Null" bereits dann ergeben kann, wenn der Aufenthalt von Unionsbürgern in Deutschland noch nicht als verfestigt anzusehen ist, bleibt mangels Entscheidungserheblichkeit offen.
3. Wenn sich in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffend existenzsichernde Leistungen ein Anordnungsanspruch aus einer höchstrichterlichen Rechtsprechung ergeben kann, hat im Sinne der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe die Rechtsverfolgung unabhängig davon hinreichende Aussicht auf Erfolg, ob das Instanzgericht eine abweichende Rechtsauffassung vertreten will.
Tenor
Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2016 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 350,60 € monatlich vom 9. Juni 2016 bis zum 8. September 2016, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über einen etwaig ergehenden, Leistungen versagenden oder geringere Leistungen zuerkennenden Verwaltungsakt, zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen.
Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin Alexandra Lange, Berlin, beigeordnet.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in der ersten Instanz zu einem Viertel und in der zweiten Instanz zur Hälfte. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2016 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt, soweit sich die Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes richtet.
Gründe
I.
Die Antragstellerin ist 1956 geboren und besitzt die bulgarische Staatsangehörigkeit. In Bulgarien war sie nach ihren Angaben als Erzieherin in einem Kindergarten beschäftigt. Aus der bulgarischen Sozialversicherung erhält sie eine Hinterbliebenenrente, nachdem ihr Ehemann im Mai 2015 verstorben war. Der monatliche Zahlbetrag liegt seit Juli 2015 bei 367,44 bulgarischen Lew (entsprechend 187,87 €, der Umtauschkurs ist in Bulgarien gesetzlich festgeschrieben).
Im November 2015 reiste die Antragstellerin in die Bundesrepublik Deutschland ein und ist seit dem 17. November 2015 unter der Wohnanschrift ihrer 1981 geborenen Tochter in B angemeldet. In der Wohnung wohnen außerdem der Ehemann der Tochter und die zwei - 2002 und 2011 geborenen - Kinder des Ehepaars, das für sich und seine Kinder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erhält. Der Beigeladene berücksichtigt dabei als Kosten der Unterkunft der Bedarfsgemeinschaft vier Fünftel der Gesamtkosten der Unterkunft von 671,31 € (Grundmiete, Heizung und Nebenkosten), entsprechend 537,88 €.
Im Januar 2016 sprach die Antragstellerin beim Antragsgegner mit dem Ziel vor, Leistungen zu beantragen. Sie legte dabei ihre Meldebescheinigung, ein Schreiben des Bundeszentralamtes für Steuern über die Zuteilung einer Identifikationsnummer nach der Abgabenordnung sowie die bulgarische Rentenbewilligung mit einer Übersetzung in die deutsche Sprache vor.
Der Antragsgegner fertigte daraufhin mit Datum des 12. Januar 2016 ein Schreiben “zur Vorlage beim JobCenter„ in dem es heißt:
“Für Frau P liegt weder eine Feststellung der vollen Erwerbsminderung vom Rententräger vor noch hat sie die Regelaltersgrenze erreicht. Sie bezieht eine bulgarische Witwenrente. Eine Altersrente aus Bulgarien wird nicht bezogen. Damit ist das JobCenter für Frau P zuständig.
Frau P gehört nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis für Leistungen nach dem SGB XII.„
Zu ihrem dann am 25. Februar 2016 beim Beigeladenen gestellten Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld II nach dem SGB II gab die Antragstellerin an, dass sie deutsch lernen und dann arbeiten wolle. Der Beigeladene lehnte den Antrag durch bestandskräftig gewordene...