Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. sofortige Anordnung einer Zulassungsentziehung. generalpräventive Erwägungen. Verstoß gegen vertragsärztliche Pflichten durch Mitarbeiter eines Medizinischen Versorgungszentrums ≪MVZ≫. Verantwortlichkeit des MVZ auch bei Bestellung eines ärztlichen Leiters. Prüfung von Auslauffristen im Zusammenhang mit der Gewährung von hoheitlich beendeten Behandlungs- und Abrechnungsmöglichkeiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die sofortige Vollziehung einer Zulassungsentziehung darf auch aus generalpräventiven Erwägungen angeordnet werden.

2. Verstoßen Mitarbeiter eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) gegen Pflichten, die diesem gegenüber anderen an der vertragsärztlichen Versorgung Beteiligten (zB Kassenärztliche Vereinigung, Zulassungsgremien) obliegen, hat hierfür ausschließlich das MVZ einzustehen. Von dieser Verantwortung wird das MVZ auch nicht durch die Bestellung eines ärztlichen Leiters befreit.

3. Auch bei gröblichen Pflichtverletzungen durch bei einem MVZ angestellte Ärzte ist primär eine Entziehung der dem MVZ erteilten Zulassung zu prüfen. Ein Bedürfnis, anstelle einer Zulassungsentziehung gegenüber dem MVZ nur einen Widerruf der Anstellungsgenehmigung vorzunehmen, ist allenfalls dann denkbar, wenn die zum Widerruf berechtigenden Umstände ausschließlich in der Person des angestellten Arztes auftreten und vom MVZ in keiner Weise zu beeinflussen sind.

4. Auslauffristen, die im Zusammenhang mit hoheitlich beendeten Behandlungs- und Abrechnungsmöglichkeiten gewährt werden, sind auch im Vertragsarztrecht zu prüfen.

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 08.11.2010; Aktenzeichen 1 BvR 722/10)

BVerfG (Beschluss vom 15.03.2010; Aktenzeichen 1 BvR 722/10)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 1) gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. November 2009 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Antragsgegners vom 15. Juli 2009 mit Wirkung zum 1. April 2010 angeordnet wird.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Beigeladene zu 1) zu 5/6 und die Antragstellerin zu 1/6. Die übrigen Beigeladenen und der Antragsgegner tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Streitwert wird auf 229.305,76 € festgesetzt.

 

Gründe

Die nach § 172 Abs. 1, § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Beigeladenen zu 1) ist im Ergebnis weitgehend unbegründet.

1. Das Gericht der Hauptsache kann nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Da die Anfechtungsklage des zu 1) beigeladenen Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 15. Juli 2009 gemäß § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung hat, muss die antragstellende Kassenärztliche Vereinigung (KV) eine entsprechende Anordnung durch das Sozialgericht anstreben, will sie erreichen, dass die vom Antragsgegner verfügte Entziehung der der Beigeladenen zu 1) erteilten Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung mit sofortiger Wirkung eintritt. Ob die sofortige Vollziehung anzuordnen ist, entscheidet sich nach den auch sonst im Rahmen von § 86 b SGG anzuwendenden Kriterien: das Interesse des Antragstellers an der Anordnung ist dem Interesse des von der Zulassungsentziehung Betroffenen gegenüberzustellen. Hierbei kommt den Erfolgsaussichten der Klage gegen die Zulassungsentziehung im Rahmen einer dynamischen Betrachtung besondere Bedeutung zu: Je höher die Erfolgsaussichten der Klage sind, desto höher sind auch die Anforderungen an eine Anordnung der sofortigen Vollziehung. Denn an der sofortigen Vollziehung eines aller Voraussicht nach rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kein (öffentliches) Interesse bestehen. Ist die Klage hingegen offensichtlich aussichtslos, erlaubt dies allein demgegenüber grundsätzlich noch nicht die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Vergleichbar den materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde nach § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG ist auch bei gerichtlicher Anordnung ein über den Erlass des Verwaltungsaktes hinausreichendes besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung erforderlich. Nur in besonderen Konstellationen rechtfertigt bereits der Regelungszweck eines Verwaltungsaktes dessen sofortige Vollziehung (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Januar 2004, Az.: L 11 B 17/03 KA ER - für den Sicherungseinbehalt durch eine KV -, veröffentlicht in Juris, m.w.N.).

2. Im vorliegenden Fall ist die Klage offensichtlich aussichtslos. In dieser Einschätzung folgt der Senat nach eigener Prüfung der Auffassung des Sozialgerichts. Er verweist daher - zur Vermeidung von Wiederholungen - gemäß § 142 Abs. 3 Satz 2 SGG insoweit auf die zutreffenden Ausführungen in der angegriffenen Entscheidung. Ergänzend weist er auf Folgendes hin:

a) Auch wenn die vom Antragsteller und de...

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