Entscheidungsstichwort (Thema)
Folgenabwägung bei ungeklärter Rechtsfrage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Leistungsausschluss für Staatsangehörige von EU-Staaten. Sammeln von Pfandflaschen keine selbständige Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Es spricht einiges dafür, dass SGB II (juris: SGB 2) § 7 Abs. 1 S. 2 mit dem Recht der EU nicht vereinbar ist und auf Unionsbürger zumindest nicht einschränkungslos anwendbar ist.
2. Pfandflaschensammler sind nicht als niedergelassene selbständig Erwerbstätige iSv FreizügG/EU§ 2 Abs. 2 Nr. 2 anzusehen.
3. Zur Frage, ob die in SGB II (juris: SGB 2) § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 getroffene Regelung Bestand hat oder mit dem Recht der Europäischen Union - konkret der Arbeitnehmerfreizügigkeit - unvereinbar ist (Fortführung: LSB Berlin-Brandenburg, 2009-11-11, L 10 AS 1801/09, InfAuslR 2010, 203).
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Mai 2010 geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig ab dem Tage des Zugangs dieses Beschlusses als Telefax bei der Antragsgegnerin bis zum 31. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch im Umfang von insgesamt 876,42 Euro monatlich ≪Antragsteller zu 1) und Antragstellerin zu 2) jeweils 307,72 Euro, Antragstellerin zu 3) 142,60 Euro und Antragstellerin zu 4) 118,38 Euro≫ zu zahlen. Für den Monat September 2010 hat die Zahlung anteilig zu erfolgen. Die weiter gehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Den Antragstellern wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M K bewilligt; Monatsraten oder Beiträge aus dem Vermögen sind nicht zu zahlen.
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
Den Eilanträgen der aus Bulgarien stammenden, sich nach Aktenlage seit Januar 2008 erlaubt in Deutschland aufhaltenden Antragsteller war in Anwendung des § 86b Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) allein deshalb in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben, weil der Senat die Sach- und Rechtslage im einstweiligen Verfahren nicht vollständig durchdringen kann und eine Folgenabwägung (Leistung/Nichtleistung) zu ihren Gunsten zu treffen ist. Die folgende Begründung ist an den Maßstäben ausgerichtet, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluss vom 12. Mai 2005 (1 BvR 569/05 - 3. Kammer des Ersten Senats - info also 2005, 166) entwickelt hat.
Nach § 86b Abs 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung (≪vorläufige und möglicherweise teilweise≫ Zuerkennung/aktuelle Versagung des Anspruchs) als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei (teilweise) ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne, da die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates ist, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip folgt.
Davon ausgehend war der Senat gehalten, den Antragstellern für die Zukunft ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit einem Abschlag (vgl auch dazu BVerfG aaO) bzgl der jeweiligen Regelleistung sowie die (vollständigen) Kosten der Unterkunft und Heizung vorläufig zuzusprechen. Dies beruht darauf, dass derzeit mit der Gewissheit, die für eine Entscheidung in der Hauptsache notwendig ist, nicht entschieden werden kann, dass für den Antragsteller zu 1) - zu den (von ihm abgel...