Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Kostenentscheidung nach Erledigung des Rechtsstreites durch Rücknahme der Berufung. Veranlassungsprinzip. Verletzung der Sachaufklärungspflicht. prozessuale Fürsorgepflicht der Behörde
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Behörde gibt in der Regel Anlass zur Klageerhebung, wenn sie eine Entscheidung trifft, ohne den Sachverhalt zuvor zureichend aufgeklärt zu haben.
2. Eine Behörde hat im sozialgerichtlichen Verfahren eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden zu beachten. Die Behörde muss insbesondere darauf hinwirken, dass das Sozialgericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufklärt.
3. Erkennt eine Behörde, dass das Sozialgericht den Rechtsstreit ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung entscheiden wird, muss sie zur Wahrung ihrer prozessualen Fürsorgepflicht gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden das Gericht auf die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung hinweisen.
4. Verletzt eine Behörde eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden, kann dies Anlass zur Rechtsmitteleinlegung durch den Rechtsschutzsuchenden geben.
Orientierungssatz
Zum Umfang der Ermittlungspflichten im Rahmen des § 20 Abs 1 SGB 10 bzw § 103 SGG in einem - wie dem Schwerbehindertenrecht - durch medizinische Fragen geprägten Sachgebiet.
Tenor
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Verfahrens vor dem Sozialgericht Berlin zum Aktenzeichen S 33 SB 35/10 und vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zum Aktenzeichen L 13 SB 80/11 jeweils zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten noch über die außergerichtlichen Kosten des durch Rücknahme der Berufung erledigten Rechtsstreits, der das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) betroffen hat.
Bei der 1936 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 24. September 2008 unter Zuerkennung der Merkzeichen “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung), “B„ (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und “T„ (Teilnahme am Sonderfahrdienst) einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt, die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ jedoch abgelehnt.
Am 2. April 2009 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag und machte hierbei das Merkzeichen “RF„ geltend.
Auf der Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Arbeitsmediziners vom 29. April 2009, der bei Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens “RF„ einen GdB von 100 feststellte und hierbei folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsinternen zugeordneten Einzel-GdB):
a) Kunstgelenkersatz der Hüfte links, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes beidseits, Kunstgelenkersatz des Knies rechts, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseits, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenkes beidseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, chronische venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden) des Beines beidseits, Polyneuropathie (70),
b) Herzleistungsminderung, Herzrhythmusstörungen, Herzklappenfehler, pulmonale Hypertonie, Bluthochdruck (50),
c) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenfehlhaltung und Verschleiß, Bandschäden im Lendenwirbelsäulenbereich, Spinalkanalstenose (40),
d) mehrfach operiertes Brustdrüsenleiden links nach Ablauf der Heilungsbewährung (30),
e) Hörminderung, Ohrgeräusche (30),
f) medikamentös behandeltes Schilddrüsenleiden (20),
g) Sehminderung, eingepflanzte Kunstlinse beidseits (20),
h) Depression (20),
i) Verlust der Gallenblase, Bauchnarbenbruch (20),
j) Funktionsbehinderung des Schultergelenks beidseits (20),
k) Lungenfunktionseinschränkung (20),
l) Diabetes mellitus (10),
m) Harninkontinenz (10),
n) Leberschaden (10),
lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Juni 2009 eine Neufeststellung ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies er nach versorgungsärztlicher Auswertung der vorgelegten ärztlichen Unterlagen mit Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2009 zurück.
Mit der am 6. Januar 2010 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage (Aktenzeichen S 33 SG 35/10) hat die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ begehrt. Zur Begründung machte sie unter Verweis auf den zuerkannten GdB von 100 geltend, dass ihr insbesondere durch die Spinalkanalstenose eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht möglich sei. Sie könne nur kurz stehen und nicht lange sitzen. Die meiste Zeit liege sie. Zudem leide sie an einer schweren Harninkontinenz.
Nach Anhörung der Klägerin hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 23. März 2011 die Klage unter Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Befunde abgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin (Aktenzeichen L 13 SB 80/11) hat der Senat durch Urteil vom 10. August 2011 mit der Begründung, das Sozialgericht habe zu Unrecht durch Gerichtsbescheid entschieden und den Sachverhalt nicht aufgeklärt, die Entscheidung aufgehoben un...