Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. örtliche Zuständigkeit. allgemeine gesetzliche Wohnsitzauflage
Leitsatz (amtlich)
§ 36 Abs 2 S 1 SGB II iVm § 12a AufenthG (juris: AufenthG 2004) begründen eine von § 36 Abs 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit auch bei Vorliegen der allgemeinen gesetzlichen Wohnsitzauflage nach § 12a Abs 1 AufenthG.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts vom 11. Dezember 2020 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insgesamt abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J F, Wplatz, B, gewährt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2020 - mit dem der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, der Antragstellerin für die Zeit vom 24. November 2020 bis zum 30. April 2021 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren - ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind. Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung bzw. - wenn diese wegen notwendiger Ermittlungen im Eilrechtsschutzverfahren nicht durchführbar ist - eine Folgenabwägung erforderlich, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 23. März 2020 - 2 BvR 2051/19 -, juris, m.w.N.). Auch bei Vornahmesachen ist einstweiliger Rechtsschutz jedenfalls dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 -, juris, m.w.N.).
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner ist für den gemäß §§ 7 Abs. 1, 19 ff. SGB II geltend gemachten Leistungsanspruch nach § 36 Abs. 2 SGB II örtlich nicht zuständig.
Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist für die Leistungen nach dem SGB II der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12 a Abs.1 bis 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Nach § 12 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Asylberechtigter, Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, in das er zur Durchführung des Asylverfahrens zugewiesen worden ist. Aus der Fiktionsbescheinigung vom 6. August 2020 ergibt sich, dass die Antragstellerin ihren Wohnsitz in Thüringen zu nehmen hat. Eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage bezogen auf einen bestimmten Wohnort (vgl. § 12 Abs. 2 und 3 AufenthG) ist vorliegend indes nicht ergangen. Dies ist der Antragstellerin allein günstig. Damit erstreckt sich das Gebiet, in dem die Antragstellerin ihren Wohnsitz zu nehmen hat, auf das gesamte Land Thüringen. Nur dort kann unter Berücksichtigung des insoweit begrenzten Freizügigkeitsrechts die Zuständigkeit eines Jobcenters begründet werden. Eine Zuständigkeit des Antragsgegners kommt danach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht.
Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts begründet § 12 a AufenthG eine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers nicht nur bei der Erteilung einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 oder 3 AufenthG, sondern auch bei Vorliegen der allgemeinen gesetzlichen Wohnsitzauflage des § 12 a Abs. 1 AufenthG. Die Auffassung des Sozialgerichts würde dazu führen, dass die Adressaten einer Wohnsi...