Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitssuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger. Griechenland. Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses. Vereinbarkeit mit dem Europäischen Fürsorgeabkommen
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 verstößt nicht gegen das Europäische Fürsorgeabkommen.
2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG - sog. Unionsbürgerrichtlinie - gedeckt, soweit Leistungen zum Lebensunterhalt begehrt werden.
3. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist mit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - VO 883/2004 vereinbar.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. März 2012 aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt MK, F., B, beigeordnet.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege der einstweiligen Anordnung gegen eine Aufhebung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs.
Der 1983 geborene Antragsteller ist griechischer Staatsbürger und ist seit Juli 2011 in der Bundesrepublik Deutschland gemeldet. Nach seinen eigenen Angaben lebte er zunächst von seinen Ersparnissen. Ihm ist ausweislich der Bescheinigung der Demokritus Universität Thrazien vom 28. Mai 2008 das Diplom der Rechtswissenschaft erteilt worden.
Am 14. Oktober 2011 beantragte der Antragsteller bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Diese bewilligte ihm der Beklagte mit Bescheid vom 3. November 2011 für den Zeitraum vom 1. Oktober 2011 bis zum 29. Februar 2012 in monatlicher Höhe von insgesamt 584 Euro. Auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 10. Februar 2012 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Februar 2012 auch für den Folgezeitraum vom 1. März 2012 bis zum 31. August 2012 monatliche Leistungen, nach Anhebung des Regelsatzes nunmehr in Höhe von 594 Euro.
Mit Bescheid vom 9. März 2012 hob der Beklagte die Entscheidung vom 16. Februar 2012 über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. April 2012 bis zum 31. August 2012 ganz auf und führte zur Begründung aus, es sei eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) eingetreten. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 19. Oktober 2010 (Az. B 14 AS 23/10) entschieden, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für Staatsangehörige von Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) keine Anwendung finde. Aus diesem Grund seien Leistungen bewilligt worden. Nunmehr habe die Bundesrepublik Deutschland jedoch mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 den Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen erklärt, keine Verpflichtung für eine Leistungsgewährung nach dem SGB II an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zu übernehmen.
Daraufhin hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Berlin am 20. März 2012 unter Vorlage eines Sendeberichts für einen Widerspruch zu dem Bescheid vom 9. März 2012 vom gleichen Tage (20. März 2012) beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 20. März 2012 gegen den Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 9. März 2012 anzuordnen.
Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 30. März 2012 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 20. März 2012 gegen den Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 9. März 2012 angeordnet. Der Bescheid sei nach Auffassung des Sozialgerichts rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Eine Aufhebung nach § 48 SGB X käme schon mangels nachträglicher Änderung nicht infrage, da der Vorbehalt vom 19. Dezember 2011 bei der Leistungsbewilligung am 16. Februar 2012 bereits in Kraft gewesen sei. Auch eine Umdeutung in eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach § 45 SGB X käme nicht in Betracht, weil die Bewilligung vom 16. Februar 2012 nicht rechtswidrig gewesen sei. Obwohl der Antragsteller als griechischer Staatsangehöriger sein Aufenthaltsrecht, soweit ersichtlich, allein aus der Arbeitssuche herleite, könne der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greifen. Denn dieser Leistungsausschluss sei nicht mit unmittelbar anwendbarem und Anwendungsvorrang genießendem Europarecht, nämlich mit Art. 4 VO 883/2004 vereinbar. Gemäß dem eindeutigen Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 i...