Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitssuche. Anwendbarkeit auf Unionsbürger. Spanien. Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses. Vereinbarkeit mit dem Europäischen Fürsorgeabkommen
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 verstößt nicht gegen das Europäische Fürsorgeabkommen.
2. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG - sog. Unionsbürgerrichtlinie - gedeckt, soweit Leistungen zum Lebensunterhalt begehrt werden.
3. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist mit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - VO 883/2004 vereinbar.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. März 2012 aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 19xx geborene Antragstellerin ist spanische Staatsbürgerin. Sie ist im Besitz einer vom Bezirksamt Mitte von Berlin ausgestellten Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU vom 3. September 2010. Im Februar 2011 stellte die Klägerin erstmalig einen Leistungsantrag bei dem Antragsgegner. Ausweislich eines Vermerkes vom 17. Februar 2011 gab sie an, im Fernstudium das spanische Abitur abzulegen. Nach Erwerb des Abiturs beabsichtige sie, an der TU oder FU Berlin Bauingenieurwesen zu studieren. Den damaligen Antrag lehnte der Antragsgegner ab.
Gegenüber der Techniker Krankenkasse erklärte die Klägerin mit Datum vom 10. Oktober 2011, sie habe keine Einnahmen und bestreite ihren Lebensunterhalt durch “Unterstützung der Mutter: 800 Euro/Monat„.
Am 26. Januar 2012 beantragte sie bei dem Antragsgegner erneut Leistungen nach dem SGB II und gab hierbei mit von ihr mit Datum vom 27. Januar 2012 unterzeichneten Erklärung an “in einen Bedarfsgemeinschaftwohnung„ mit Herrn M. zu leben, der seit 2010 als Kellner arbeite. Außerdem gab sie mit Erklärung vom selben Tage an, ihren Lebensunterhalt finanziere sie mit erspartem Geld von ihrem letzten Job. Außerdem gab sie in dieser Erklärung an, von ihrer Mutter monatlich 300 Euro zu erhalten.
Mit Bescheid vom 27. Februar 2012 lehnte daraufhin der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II mangels Hilfebedürftigkeit ab. Unter Anrechnung eines monatlichen Einkommens von 800 Euro (Unterstützung durch die Mutter) bestehe keine Bedürftigkeit.
Am 16. März 2012 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Berlin beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Leistungserbringung nach dem SGB II ohne die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft und ohne die Berücksichtigung eigenen Einkommens zu verpflichten. Sie habe gegenüber dem Antragsgegner bereits erläutert, keine Einkünfte in monatlicher Höhe von 800 Euro zu haben. Das noch im Antrag angegebene Einkommen stelle eine von ihrer Mutter versprochene Unterstützung dar, die diese aufgrund zwischenzeitlich eigener finanziell prekärer Lage nicht leisten könne. Letztmalig seien von der Mutter im Dezember 550 Euro geleistet worden. Die weiteren Zahlungen über 500 Euro seien Zahlungen Ihres Mitbewohners für von der Antragstellerin verauslagte Rechnungen und Mietzahlungen. Als Bedarfsgemeinschaft habe sie sich selbst eingestuft, weil ihr mitgeteilt worden sei, eine Wohngemeinschaft sei eine Bedarfsgemeinschaft.
Der Antragsgegner hat darauf hingewiesen, dass ein Anspruch schon im Hinblick auf den Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht glaubhaft gemacht sei. Aufgrund des Vorbehaltes der Bundesregierung vom 19. Dezember 2011 finde diese Regelung auch für Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens Anwendung.
Die Antragstellerin hat die Ansicht vertreten, der Vorbehalt sei völkerrechtswidrig, er müsse nach der Wiener Vertragskonvention spätestens bei der verbindlichen Zustimmung zu einem Vertrag erklärt werden.
Das Sozialgericht Berlin hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 28. März 2012 verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 16. März 2012 bis zum 16. September 2012, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Ablehnungsbescheid vom 27. Februar 2012, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 583,00 € monatlich zu gewähren. Die Antragstellerin habe auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zwar käme die Anwendung des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in Betracht. Gegen die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bestünden in der Rechtsprechung allerdings europarechtliche Bedenken, die im Rahm...