Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von Leistungen der Grundsicherung für einen ausländischen Staatsbürger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Freizügigkeit. Selbstständige Tätigkeit. Vereinbarkeit mit Europarecht. Einstweilige Anordnung. Folgenabwägung. Prinzip der Gewaltenteilung
Orientierungssatz
1. Lässt sich für einen polnischen Staatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht allenfalls aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, so greift bei dessen Antragstellung zu Leistungen der Grundsicherung der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2. Der Leistungsausschluss ist europarechtskonform.
2. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 ist vereinbar mit der seit 1. Mai 2010 geltenden EGV Nr. 883/2004 (juris: EGV 883/2004) und mit Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 (juris: EGRL 38/2004). Er verstößt auch nicht gegen Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (juris: EuFürsAbk) (Vergleiche: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, B 14 AS 23/10 R), weil aufgrund des von der Bundesregierung mit Wirkung vom 19. Dezember 2011 erklärten Vorbehalts ein Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 erfolgt ist.
3. Infolgedessen ist bei nicht feststellbarer Europarechts- bzw. Völkerrechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses die Möglichkeit einer Gewährung von Leistungen des SGB 2 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über eine Folgenabwägung ausgeschlossen. Dies gilt auch angesichts der Entscheidung des BVerfG vom 12. Mai 2005 (Vergleiche: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05).
4. Das BVerfG legt bei seiner Folgenabwägung besonders strenge Maßstäbe an, wenn die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt wird (Vergleiche: BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 22. März 2005, 1 BvQ 2/05). Dies gilt erst recht für die Rechtsprechung der Instanzgerichte, die i. S. von Art. 92 GG nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind. Eine für zulässig gehaltene Folgenabwägung würde zur Nichtanwendung der gesetzlichen Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 und damit zur unzulässigen Durchbrechung des Prinzips der Gewaltenteilung führen.
5. Im Übrigen würde eine Leistungsbewilligung im einstweiligen Rechtsschutz angesichts der fehlenden finanziellen Leistungsfähigkeit des Antragstellers regelmäßig zu einem endgültigen Leistungserhalt und damit zur Vorwegnahme der Hauptsache führen.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2-3; EFA Art. 1; RL(EG) 38/2004 Art. 24 Abs. 2; SGG § 86b Abs. 2; GG Art. 20 Abs. 3
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 2013 aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird in vollem Umfang abgelehnt.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin - Brandenburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt J R, M Straße, B, beigeordnet.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der 1976 geborene Antragsteller ist polnischer Staatsbürger und nach seinen eigenen Angaben im Frühjahr 2011 zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Mit der B P Hservice GmbH schloss der Antragsteller einen vom 22. Juni 2011 bis zum 21. September 2011 befristeten Arbeitsvertrag. Ausweislich vorgelegter Verdienstabrechnungen für die Monate Juli, August und September 2011 war der Antragsteller in diesen Monaten bei der B P Hservic GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden beschäftigt und erhielt Nettoarbeitsentgelte von 459,32 € (Juli 2011), 632,60 € (August 2011) und 503,35 € (September 2011). Nach einer Gewerbeanmeldung vom 30. Januar 2012 meldete der Antragsteller an diesem Tag bei dem Bezirksamt Mitte von Berlin ein Gewerbe mit der Tätigkeit “Trockenbau„ an, welches er nach der Gewerbeabmeldung vom 26. November 2012 mit diesem Datum wieder abmeldete.
Am 22. März 2013 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II. Im Antragsverfahren legte er eine schriftliche Erklärung der Bundesagentur für Arbeit vom 25. März 2013 vor, nach der ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I nicht bestehe und ein Bewerberangebot (für den Antragsteller) nicht aufgenommen worden sei.
Mit Bescheid vom 27. März 2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II unter Hinweis auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ab. Hiergegen erhob der Antragsteller mit der Begründung Widerspruch, er habe durch seine Tätigkeit für die B P Hservice GmbH einen Arbeitnehmerstatus erworben und leite sein Aufenthaltsrecht daher nicht lediglich aus einer Arbeitsuche ab.
Diesen Widerspruch wies der Antragsgegner ...