Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen für die Ablehnung der Kostenübernahme für die vollstationäre Pflege aufgrund eines Mehrkostenvergleichs

 

Orientierungssatz

1. Dem Hilfebedürftigen wird durch das Wunschrecht in § 9 Abs 2 SGB XII (juris: SGB 12) ein Spielraum eröffnet, der durch die Angemessenheit des Hilfewunsches begrenzt wird.

2. Der Begriff “angemessen„ schließt die Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles und der Gesamtsituation ein; zu den “Besonderheiten des Einzelfalles„ gehören neben der Situation des Leistungsempfängers insbesondere die Beurteilung seines Umfeldes, die Möglichkeit familiärer und nachbarschaftlicher Hilfe und Betreuung.

3. Die Bestimmung der Angemessenheit wird schließlich begrenzt durch den so genannten Mehrkostenvorbehalt in § 9 Abs 2 S 3 SGB XII (juris: SGB 12). Diese Einschränkung ergibt sich daraus, dass es um die Verteilung steuerfinanzierter Leistungen geht, die in ihre Endlichkeit nicht beliebig verteilt werden können.

4. Bei diesem Kostenvergleich ist auf das Kostenniveau anderer, vergleichbarer Einrichtungen abzustellen.

5. Zudem muss die zum Vergleich herangezogene Einrichtung in gleicher Weise geeignet sein, wie die vom Leistungsberechtigten gewählte Einrichtung. Abzustellen ist allein darauf, welche Kosten dem Träger der Sozialhilfe entstehen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 07. Januar 2011 aufgehoben.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die 1929 geborene Antragstellerin ist dement und schwer pflegebedürftig (Pflegestufe II) und wurde, nachdem ihr im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes die Unterbringung in einem vollstationären Pflegeheim empfohlen worden war, zum 01. September 2010 in das “Senioren Centrum Haus P„ in B aufgenommen. Dieses Pflegeheim befindet sich in räumlicher Nähe zum Wohnort ihrer Tochter.

Den Antrag auf Kostenübernahme für die vollstationäre Pflege im Senioren Centrum Haus P lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 15. November 2010 ab. Er stützte sich insoweit auf einen Mehrkostenvergleich.

Auf den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 08. Dezember 2010 verpflichtete das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 07. Januar 2011 den Antragsgegner, ab dem 01. Dezember 2010 bis zum Vorliegen zum einen des amtsärztlichen Gutachtens und zum anderen seiner nachfolgenden Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 15. November 2010 vorläufig die nicht von der Pflegeversicherung gedeckten Kosten des Aufenthalts der Antragstellerin im Senioren Centrum Haus P zu übernehmen, und ordnete insoweit eine dingliche Sicherung an. Es stützte seine Entscheidung auf eine so genannte Folgenabwägung und meinte, eine besondere Eilbedürftigkeit ergäbe sich aus dem Attest der behandelnden Ärztin Dr. R vom 30. November 2010, nach dem die Antragstellerin einen Umzug nicht verkraften könne.

Gegen den am 07. Januar 2011 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 17. Januar 2011 Beschwerde erhoben und, nachdem die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin darauf hingewiesen hatten, dass kaum bestritten werden könne, dass der Antragstellerin ein Umzug in eine Pflegeeinrichtung grundsätzlich möglich wäre, geltend gemacht, dass der Wunsch der Antragstellerin auf Verbleib in der Einrichtung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sei.

Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat u. a. ein Attest der behandelnden Ärztin Dr. R vom 16. März 2011 zu den Akten gereicht, die einen Diabetes mellitus II, insulinpflichtig, Hypertonie, Demenz, Adipositas, Inkontinenz, Gewichtserhöhung, Verdacht auf Basedow-Krankheit und eine Hyperthyreose diagnostiziert. Um noch verbliebene Erinnerungen zu pflegen und zu erhalten, sei der Kontakt zu den Kindern unabdingbar. Um diese Kontakte zu intensivieren, sei der Umzug in Wohnnähe der Tochter, die sich um die Patientin kümmert, empfohlen worden. Die Antragstellerin habe bereits davon profitiert. Sie erhalte jetzt ein- bis zweimal pro Woche Besuch, das sei vorher durch die Entfernung und die Betreuung des behinderten Sohnes der Tochter nicht möglich gewesen. Es gehe hier nicht um die Entscheidung, ob ein erneuter Umzug der Patientin in eine “billigere„ Einrichtung möglich sei, sondern darum, einem Menschen mit zunehmend schlechterer gesundheitlicher Prognose den häufigeren Kontakt zur Familie zu ermöglichen und die durch die Pflege des behinderten Sohnes belastete Tochter zu entlasten. Es gehe also auch um eine moralische Entscheidung zugunsten der Nähe der Familie und nicht der Nähe des Bekanntenkreises.

Weiterhin hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin eine Stellungnahme der Tochter der Antragstellerin zu den Akten gereicht.

II.

Der zulässige Antrag hat Erfolg.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht vorläufig verpflichtet, die Kosten für die Unterbringung der Antragstellerin im Senioren Centrum Haus P ...

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