Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12
Leitsatz (amtlich)
1. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist auf Grund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl zB BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43) zur Frage der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII als Ermessensleistung vom Vorliegen eines Anordnungsanspruchs auszugehen.
2. Insoweit abweichend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist jedoch nicht in jedem Fall von einer Ermessensreduzierung auf Null nach einem mindestens sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland auszugehen. Der Sozialhilfeträger hat die Umstände des Einzelfalls aufzuklären und eine Ermessensentscheidung zu treffen.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Februar 2016 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 404,00 Euro monatlich vom 13. April 2016 bis zum 12. Juli 2016, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu zahlen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ¾ der außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung seit dem 1. März 2016 bewilligt und Rechtsanwalt I S, F Allee B, beigeordnet.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt von dem Antragsgegner Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) ab dem 28. Januar 2016.
Die 1976 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie war vom 18. Oktober 2005 bis zum 20. Dezember 2005 in Berlin-Schöneberg “bei K, vom 3. Mai 2007 bis 21. Januar 2008 in Berlin-Pankow, vom 21. Januar 2008 bis zum 15. Juli 2009 in Berlin-Mitte, vom 15. Juli 2009 bis zum 19. April 2011 in Berlin Pankow “bei G M„, vom 23. September 2013 bis zum 12. Mai 2014 in Berlin-Pankow “bei K K„ und vom 12. Mai 2014 bis zum 14. Juli 2015 in Berlin Mitte gemeldet. In der Zeit von 2007 bis 2011 war sie nach eigenen Angaben selbständig für verschiedene Hotels als Reinigungskraft tätig. Dazu hat sie im Beschwerdeverfahren die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2007, 2008 und 2009 vorgelegt, die für das Jahr 2007 Einkünfte in Höhe von 525 Euro, für 2008 in Höhe von 3.968 Euro und für das Jahr 2009 in Höhe von 3.484 Euro ausweisen. Es wurde jeweils eine Einkommensteuerschuld in Höhe von 0,00 Euro festgesetzt. Das Gewerbe wurde am 11. September 2014 wegen “wirtschaftlicher Schwierigkeiten„ abgemeldet. In der Zeit vom 3. Mai 2011 bis 9. November 2011, vom 1. Dezember 2011 bis 7. Juni 2012, vom 25. Juli 2012 bis 27. August 2012, vom 13. September 2012 bis 17. Oktober 2012 und vom 25. April 2013 bis zum 19. Juli 2013 hatte die Antragstellerin jeweils ein Beschäftigungsverhältnis inne. In der Zeit vom 26. November 2014 bis zum 14. Juli 2015 war sie in Polen inhaftiert. Zurzeit, seit dem 14. Juli 2015, ist die Antragstellerin in Berlin-Lichtenberg “bei B„ gemeldet. Dort lebt sie nach eigenen Angaben mietfrei bei einer Freundin, bis sie eigenen Wohnraum gefunden hat. Seit dem 10. Dezember 2015 ist die Antragstellerin geschieden, nach eigenen Angaben erhält sie keinen Unterhalt oder eine finanzielle Unterstützung von ihrem geschiedenen Ehemann.
Einen Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld II hat der Beigeladene mit Bescheid vom 28. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2015 mit der Begründung abgelehnt, § 7 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch/ Zweites Buch (SGB II) schließe eine Anspruch aus, weil die Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitssuche habe. Die Klage hiergegen ist beim Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen S 186 AS 18308/15 anhängig. Mit Beschluss vom 9. Oktober 2015 (Az. S 186 AS 18308/15 ER) hat das Sozialgericht Berlin den Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Begehren, die Beigeladene zu verpflichten, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu gewähren mit der Begründung abgelehnt, ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben, da die Antragstellerin gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein auf Grund der Arbeitssuche. Die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg am 28. Dezember 2015 (Az. L 31 AS 2794/15 B ER) zurückgewiesen. Eine Beiladung des hiesigen Antragsgegners zu dem dortigen Verfahren erfolgte nicht.