Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Unionsbürger. Arbeitnehmerstatus. missbräuchliche Berufung

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2022 geändert.

Den Antragstellern wird für das Verfahren bei dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten bewilligt. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu erstatten.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten bewilligt.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragsteller ist (nur) begründet, soweit das Sozialgericht (SG) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt hat; im Übrigen ist sie nicht begründet und war zurückzuweisen.

Es fehlt bereits an einem iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Wege einer gerichtlichen Regelungsanordnung zu sichernden Anordnungsanspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für den geltend gemachten Zeitraum ab 18. Oktober 2022 (Antragseingang).

Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) II/Sozialgeld sind §§ 7 ff, 19 ff SGB II. Die Kläger rumänischer Staatsangehörigkeit erfüllen die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB II. Ob sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, weil sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 wegen des mittlerweile aufgenommenen (23. November 2022) Schulbesuchs des Antragstellers zu 4) berufen konnten, wofür wiederum Anknüpfungspunkt der Arbeitnehmerstatus eines Elternteils ist (vgl zum Ganzen mit Nachweisen aus der Rspr des Europäischen Gerichtshofs ≪EuGH≫: Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 27. Januar 2021 - B 14 AS 25/20 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 59 - Rn 17), kann dahinstehen. Gleiches gilt für die Freizügigkeitsberechtigung des Antragstellers zu 1) als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB II. Dieser dürfte zwar nach europarechtlichen Maßstäben formal als Arbeitnehmer anzusehen sein; jedoch ist es im vorliegenden Fall missbräuchlich, sich hierauf für ein daraus abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu berufen.

Der Begriff des Arbeitnehmers ist unionsrechtlich zu bestimmen. Arbeitnehmer iS von Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist auch die Dauer der von dem Betroffenen verrichteten Tätigkeit ein Gesichtspunkt, den das innerstaatliche Gericht bei der Beurteilung der Frage berücksichtigen kann, ob es sich hierbei um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt oder ob sie vielmehr einen so geringen Umfang hat, dass sie nur unwesentlich und untergeordnet ist. Der bloße Umstand der kurzen Dauer der Beschäftigung führt als solcher nicht dazu, dass die Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist. Nicht maßgeblich für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft sind dagegen bestimmte Umstände aus der Zeit vor und nach der Beschäftigung, wie etwa das Verhältnis der Beschäftigungsdauer zur Aufenthaltsdauer. Weiterhin sind die Motive für den Abschluss von Arbeitsverträgen sowie der Suche von Arbeit in einem Mitgliedstaat unerheblich. Selbst wenn ein Unionsbürger die Arbeitnehmereigenschaft nur in missbräuchlicher Absicht erlangen will, ändert dies nichts an der Stellung als Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmereigenschaft beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf Rechte und Pflichten kennzeichnen. Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist mithin Bezug zu nehmen insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer (vgl zum Ganzen BSG aaO Rn 19-24 mit Nachweisen aus der Rspr des EuGH).

Nach Würdigung des Arbeitsvertrages, der dort vereinbarten Arbeitszeit und dem vereinbarten und - wie sich den eingereichten Kontoauszügen entnehmen lässt - tatsächlich auch geflossenen Arbeitsentgelt (zuletzt im Oktober 2022 zzgl Energiekostenpauschale 1.108,71 €) dürfte der Arbeitnehmerstatus des Antragstellers zu 1) zu bejahen sein. Nach der ständigen Rspr des EuGH, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, ist das Berufen der Antragsteller auf eine unionsrechtliche Rechtsstellung im vorliegenden Einzelfall aber missbräuchlich, was von der Begründung der Rechtsstellung - hier der Arbeit...

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