Entscheidungsstichwort (Thema)

ALG 2. EU-Ausländer. Europäisches Fürsorgeabkommen. Aufenthaltsrecht. Leistungen nach SGB II

 

Orientierungssatz

1. Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II sind als Leistungen der Fürsorge im Sinne des Artikels 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens anzusehen. Dies setzt nicht voraus, dass das SGB II im Anh 1 zum EuFürsAbk als Fürsorgegesetz im Sinne von Art. 1 EuFürsAbk aufgeführt und eine entsprechende Mitteilung nach Art 16ff EuFürsAbk erfolgt ist.

2. Personen, die vom Europäischen Fürsorgeabkommen erfasst sind, haben einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, auch wenn ihr Aufenthalt allein der Arbeitssuche dient. Das Europäische Fürsorgeabkommen geht den Reglungen in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vor. (Anschluss LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 - L 8 SO 88/07 ER).

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. August 2009 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen auch die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Die zulässige (§§ 172 Abs. 1, 173 Sätze 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Die Entscheidung des Sozialgerichts ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Den Antragstellerinnen sind vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) zu erbringen.

Die erwerbsfähige (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) Antragstellerin zu 1), welche die spanische Staatsangehörigkeit besitzt, hat das 15. Lebensjahr vollendet, aber die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Seit dem 14. Juni 2006 hält sie sich - ausweislich der Freizügigkeitsbescheinigung - in Deutschland auf und lebt zurzeit zusammen mit ihrer am 7. November 2002 geborenen Tochter, der Antragstellerin zu 2), sowie ihren Eltern und ihrem Bruder in einer Wohnung. Diese Umstände lassen den Schluss zu, dass sie Antragstellerin zu 1) nicht nur vorübergehend in Deutschland verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB I]). Die Antragstellerin zu 1) hat auch zumindest glaubhaft gemacht, dass sie hilfebedürftig ist (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II), weil sie ihren Lebensunterhalt und ihre Eingliederung in Arbeit nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen - insbesondere nicht von ihren Eltern - erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Die 1978 geborene Antragstellerin zu 1) bildet nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II keine Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder ihrem Bruder, die ihrerseits Leistungen nach dem SGB II beziehen. Für die Antragstellerin zu 2) kann sich ein (abgeleiteter) Anspruch auf Sozialgeld aus § 28 SGB II ergeben.

Allerdings haben nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs. Ob aufgrund dieser Regelung auch Arbeitnehmer, die wie die Antragstellerin zu 1) die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union besitzen und nicht bereits zur Ausreise aufgefordert worden sind, von Leistungen ausgeschlossen werden können, erscheint indessen zumindest zweifelhaft (s. bereits Beschluss des Senats vom 30. Mai 2008 - L 14 B 282/08 AS ER - m. w. Nw. auf Rechtsprechung und Schrifttum und jetzt auch Beschluss des Bayerischen LSG vom 4. Mai 2009 - L 16 AS 130/09 B ER -, anders aber LSG Berlin-Brandenburg vom 5. September 2007 - L 19 B 828/07 AS ER - ; vgl. ferner Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH -, Urteile vom 23. März 2004, Rs. C-138/02,, und jetzt vom 4. Juni 2009, verb. Rs. C-22/08 und C 23-08, ). Die obergerichtliche Rechtsprechung hierzu ist uneinheitlich; höchstrichterliche Entscheidungen liegen noch nicht vor.

Zwar dürfte die Antragstellerin zu 1) - entgegen dem Sozialgericht - keine Arbeitnehmerin sein, so dass sie kein Recht auf Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/ EU) hat. “Arbeitnehmer„ i.S.d. (europäischen) Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (die das Freizügigkeitsgesetz/EU umsetzt) ist zwar auch, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als im betreffenden Mitgliedstaat als Existenzminimum angesehen wird. Das setzt aber voraus, dass tatsächlich eine echte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt wird. Außer Betracht bleiben dagegen “Tätigkeiten …, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen„ (Urteile des EuGH vom 23. März 1982 - Rs. 53/81, Levin gg. Staatssecretaris van Justitie -, Slg. S. 1035, Randnr. 17 und 18 sowie vom 26. Februar 1992 - Rs. C-357/89, R gg. Minister v O W -, Slg. S. I-1027, Randnr. 13). Gegen die Annahme, dass es ...

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