Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. griechischer Staatsangehöriger. Weiteranwendung des EuFürsAbk nach Vorbehaltserklärung der Bundesregierung. Unionsbürger. Europarechtskonformität

 

Orientierungssatz

1. Ein Ausländer, der sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableitet, ist nicht von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen, wenn er vom Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens (juris: EuFürsAbk) erfasst wird (vgl BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21).

2. Es bestehen Zweifel, ob der von der Bundesregierung erst mit Wirkung zum 19.12.2011 und ohne Zustimmungsgesetz erklärte Vorbehalt nach Art 16 Buchst b EuFürsAbk gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen nach SGB 2 die Staatsangehörigen der Signatarstaaten (hier Griechenland) wirksam vom Leistungsbezug ausschließt.

3. Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob der Leistungsausschluss für Unionsbürger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 wegen Verletzung des Art 4 EGV 883/2004 gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht verstößt.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. April 2012 insoweit neu gefasst, als der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wird, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab dem 1. Mai 2012 bis zum 31. Oktober 2012, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen in Höhe von monatlich 648,10 € zu gewähren.

Im Übrigen wir die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, jedoch im Wesentlichen unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab dem 1. Mai 2012 bis zum 31. Oktober 2012 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe von monatlich 648,10 € zu gewähren. Da jedoch der Erlass einer einstweiligen Anordnung nur für Zeiträume bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache in Betracht kommt, war der Beschluss des Sozialgerichts jedenfalls zur Klarstellung entsprechend neu zu fassen.

Das Sozialgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der Antrag des Antragstellers vom 30. März 2012 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig ist. Dabei kann dahinstehen, ob sein Antrag zugleich als Leistungsantrag nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II ausgelegt werden durfte. Denn der Antragsteller hat nach Mitteilung des Antragsgegners jedenfalls am 13. April 2012 einen solchen Antrag für den Zeitraum ab 1. Mai 2012 gestellt.

Der Antrag des Antragstellers ist - unter Berücksichtigung der Neufassung durch den Senat - in dem vom Sozialgericht tenorierten Umfang auch begründet. Der Antragsteller hat insoweit sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 bis 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -).

Dem Anordnungsanspruch steht vorliegend § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht entgegen. Zwar ist nach dem Vorbringen des Antragstellers und dem Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten davon auszugehen, dass sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers, der griechischer Staatsangehöriger und somit Angehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union (Unionsbürger) ist, allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU - vom 30. Juli 2004, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011, BGBl. I S. 2854). Entgegen seiner Auffassung dürfte ihm kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Freizügigkeitsgesetz/EU zustehen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-424/10 u.a. -, juris). Nach seinen Angaben könnte der Antragsteller zwar auf Grund ständigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland ab seiner Geburt im August 1979 bis zu seiner Ausreise Ende 2003/Anfang 2004 ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben. Da sich aber der Antragsteller seinen Angaben zufolge in dem Zeitraum von Januar 2004 bis November 2010 in Griechenland zum Zwecke der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Gaststättenbetreiber aufhielt und damit aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund über einen Zeitraum von mehr als zwei aufeinander folgenden Jahren abwesend war, wäre ein solches Recht nach § 4a Abs. 7 Freizügigkei...

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