Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Verschuldenskosten. isolierte Beschwerde. Statthaftigkeit. keine Missbräuchlichkeit bei offenem Ausgang des Verfahrens wegen notwendiger Beweiserhebung in parallel anhängigem Hauptsacheverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die isolierte Beschwerde gegen in einem Beschluss eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtschutz auferlegte Missbrauchskosten nach § 192 Abs 1 S 1 Nr 2 SGG ist grundsätzlich nach § 172 Abs 1 SGG statthaft und insbesondere nicht durch § 144 Abs 4 SGG oder § 172 Abs 3 SGG ausgeschlossen.

2. Ein Fall von Missbräuchlichkeit im Sinne von § 192 Abs 1 S 1 Nr 2 SGG liegt nicht vor, wenn der Ausgang des Rechtsstreits von einer Beweiserhebung und einer Beweiswürdigung abhängt, die im parallel anhängigen Hauptsacheverfahren zu erfolgen hat.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. Februar 2022 geändert und die Auferlegung von Mutwillenskosten für den Antragsgegner aufgehoben.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsgegner wendet sich im hiesigen Beschwerdeverfahren in der Sache ausschließlich gegen die Auferlegung von Verschuldenskosten nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGG i.H.v. 150 €.

In der Hauptsache war die Verpflichtung des Antragsgegners im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz zur vorläufigen Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Streit. Solche Leistungen hatte der Antragsgegner bei den belgischen Staatsbürgern mit Bescheid vom 12. Januar 2022 unter Hinweis auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II abgelehnt. Ein angeblich bestehender Status als Arbeitnehmer sei nicht ausreichend nachgewiesen. Insbesondere seien vermeintlich erhaltene Arbeitsentgeltzahlungen nicht belegt. Trotz bei den Antragstellern vorhandenen Girokontos seien Gehaltszahlungen in bar ohne Quittung behauptet worden, obwohl im Arbeitsvertrag mit dem Arbeitgeber „JJ“ ausdrücklich bargeldlose Zahlungen vorgesehen seien.

Im gerichtlichen Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz haben die anwaltlich vertretenen Antragsteller insbesondere einen Arbeitsvertrag, Gehaltsabrechnungen und Kontoauszüge vorgelegt.

Der Antragsgegner hat entgegnet, es seien bei den behaupteten Arbeitsverhältnissen beispielsweise keinerlei Tätigkeitsnachweise vorgelegt worden und die vermeintliche Barzahlung sei unüblich und vertraglich nicht vereinbart. Nicht einmal Quittungen über die Barzahlungen seien vorgelegt worden. Auch ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU sei nicht ersichtlich, weil ein solches den rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet von mindestens fünf Jahren voraussetze. Dies sei vorliegend nicht gegeben und schon seit Jahren in diversen Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz thematisiert. Ein Anerkenntnis eines Daueraufenthaltsrechts könne sich nicht allein darauf begründen, dass die Antragsteller seit mehreren Jahren Leistungen nach dem SGB II im Rahmen von einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausgezahlt bekommen, um sich so lange genug im Bundesgebiet aufzuhalten; eine solche Vorgehensweise sei missbräuchlich.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mehrfach darauf hingewiesen, dass der Leistungsausschluss nach § 7 SGB II nicht greife. Zunächst hat es mit Schreiben vom 27. Januar 2022 ausgeführt, es sei von einem Daueraufenthaltsrecht und von dem Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses, welches ebenfalls ein Aufenthaltsrecht begründe, auszugehen. Nach der Erwiderung durch den Antragsgegner mit Schreiben vom 7. Februar 2022 hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 8. Februar 2022 ausgeführt, es habe „sich leider nicht exakt genug ausgedrückt“, es komme wegen der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II gar nicht darauf an, ob ein Daueraufenthaltsrecht vorliege. Hierzu hat der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 11. Februar 2022 ausgeführt, für ein Daueraufenthaltsrecht käme es nicht auf einen reinen physischen Aufenthalt an und insbesondere zu dieser Frage seien für die Antragsteller allein zwei Hauptsacheverfahren (S 183 AS 1441/21 und S 154 AS 3183/20) anhängig. Ausführungen zu § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II enthalten die Schriftsätze des Antragsgegners nicht.

Das Sozialgericht hat schließlich mit Schreiben vom 14. Februar 2022 ausgeführt, die Auffassung des Antragsgegners zu § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II sei schlicht unvertretbar und hat darauf hingewiesen, dass Missbrauchsgebühren nach § 192 SGG i.H.v. 150 € zu Lasten des Antragsgegners zu verhängen wären.

Mit Beschluss vom 17. Februar 2022 hat das Sozialgericht Berlin schließlich den Antragsgegner zur vorläufigen Leistungserbringung von monatlich 1660,80 € für den Zeitraum ab dem 17. Januar 2022 bis zum 30. Juni 2022 verpflichtet. Nach § 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bestehe insbesondere ein Anordnungsanspruch. Die Antragsteller hielten sich seit dem 1. Dezember 2016 nach Auskunft des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten in Deutschland mit ge...

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