Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. fehlende Arbeitnehmereigenschaft. Zumutbarkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat
Leitsatz (amtlich)
1. § 2 Abs 2 und 3 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) schützt allein eine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt, die tatsächlich bestanden hat und nicht eine nicht in Vollzug gesetzte Vereinbarung.
2. Ist reisefähigen Inhaberinnen eines sog "Schengentitels" bei Schwangerschaft oder nach der Geburt die Rückreise in das Ausstellerland nach der Verwaltungspraxis der Ausländerbehörde zumutbar, ist nicht ersichtlich, warum nicht auch reisefähige Unionsbürgerinnen in ihr Heimatland zurückkehren könnten.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 2017 aufgehoben.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Den Antragstellerinnen wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung der aus dem Rubrum ersichtlichen Rechtsanwältin bewilligt.
Gründe
Die zulässige Beschwerde (§ 172 Sozialgerichtsgesetz - SGG) des Beschwerdegegners ist begründet, da die Antragstellerinnen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) haben. Die Antragstellerin zu 1) kann ihr Aufenthaltsrecht lediglich aus dem Recht zur Arbeitssuche ableiten, mit dem sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II allerdings von Sozialleistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Der Antragstellerin zu 1) kommt weder der Status einer Arbeitnehmerin zu noch kann sie ein anderes Aufenthaltsrecht neben dem zur Arbeitssuche geltend machen.
In ihrem Antrag vom 27. Januar 2017 gab die am 18. April 1994 geborene Antragstellerin an, im November 2015 erstmalig nach Deutschland eingereist zu sein. Sie sei rumänischer Staatsangehörigkeit. Weiter gab sie an, zunächst in der Bedarfsgemeinschaft ihres Vaters gelebt zu haben, die sie allerdings wegen ihres Alters habe verlassen müssen.
Unter dem 1. Dezember 2015 schloss sie einen Arbeitsvertrag als Reinigungskraft in einem Umfang von 20 Stunden monatlich. Nach ihren Angaben beendete sie das Arbeitsverhältnis im Juli 2016 (Kündigung vom 1. Juli 2016 zum 31. Juli 2016) und kehrte nach Rumänien zurück, um dort “nach Brauchtum„ zu heiraten. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass der Mann bereits verheiratet gewesen sei.
Im Januar 2017 kehrte sie nach Berlin zurück und beantragte Leistungen nach dem SGB II.
Mit Bescheid vom 16. Februar 2017 blieb dem Antrag der Erfolg versagt, da die Antragstellerin zu 1) von Leistungen ausgeschlossen sei, weil sie ihr Aufenthaltsrecht nur aus dem Recht zur Arbeitssuche ableisten könne.
Im Widerspruchsschreiben vom 27. Februar 2017 machte sie geltend, dass sie krank und schwanger gewesen sei, als man ihr gekündigt habe. Sie legte das Kündigungsschreiben vom 1. Juli 2016 bei.
Dem Widerspruch blieb mit zurückweisendem Widerspruchsbescheid vom 11. April 2017 der Erfolg versagt. Zur Begründung führte der Antragsgegner unter anderem aus, dass die Antragstellerin zu 1) im Juli 2016 zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht schwanger gewesen sei. Es sei daher nicht von einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit auszugehen, so dass kein nachwirkender Schutz des Arbeitnehmerstatus bestehe.
Im März 2017 legte die Antragstellerin zu 1) im Rahmen einer Veränderungsmitteilung den Arbeitsvertrag vom 24. März 2017 als Reinigungskraft vor, nach welchem sie 9,25 Stunden in der Woche arbeiten sollte. Zur tatsächlichen Arbeitsleistung kam es entsprechend einer Verdienstbescheinigung vom 31. März 2017 nur in einem Umfang von 92,50 €. Die Kündigung erfolgte am 5. April 2017 zum 17. April 2017. Die Bundesagentur für Arbeit bescheinigte unfreiwillige Arbeitslosigkeit (Bescheinigung vom 10. Mai 2017).
Mit Bescheid vom 16. Mai 2017 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II erneut ab.
Am 13. Juni 2017 wurde die Antragstellerin zu 1) von ihrer Tochter, der Antragstellerin zu 2), entbunden.
Mit Beschluss vom 21. Juni 2017 hat das Sozialgericht Berlin den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellerinnen für den Zeitraum vom 6. Juni 2017 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. August 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 587,59 € für Juni 2017 und in Höhe von 793,24 € für Juli und August 2017 zu zahlen sowie die ab dem 8. Juli 2017 anfallenden Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 40,00 € täglich bis zum 31. August 2017, längstens für die Dauer des tatsächlichen Aufenthalts an das Erstaufnahmeheim T zu zahlen. Weiter verpflichtete es den Antragsgegner vorläufig die Kosten für die Erstausstattung bei Geburt in Höhe von 526,00 € zu zahlen.
Gegen den ihm am 21. Juni 2017 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 26. Juni 2017 Beschwerde eingelegt.
Er macht geltend, dass zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft eine t...