Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Pflegegeld. keine Herabsetzung der Pflegestufe allein aufgrund geringerer Bewertung des Zeitaufwands in weiterem nach Bescheiderlass eingeholten Gutachten. Erforderlichkeit einer tatsächlichen Verminderung des Hilfebedarfs aufgrund von Änderungen im Gesundheitszustand
Orientierungssatz
1. Bei der Aufhebung eines Bewilligungsbescheids nach § 48 Abs 1 SGB 10 sind die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.
2. Wird um die Herabsetzung bzw Aufhebung einer Pflegestufe im Pflegeversicherungsrecht gestritten, dann genügt es nicht, wenn in einem nach Erlass des Bewilligungsbescheids eingeholten Gutachten der Zeitaufwand in der Grundpflege maßgeblich geringer eingeschätzt wird als in dem der Bewilligung zugrunde liegenden Erstgutachten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob in tatsächlicher Hinsicht Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar den Umfang des Hilfebedarfs vermindert haben.
Normenkette
SGB X § 48; SGB XI § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 1
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 16. September 2013 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 2013 angeordnet.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen Kosten für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in beiden Instanzen zu erstatten.
Gründe
I.
Der 2008 geborene Antragsteller, der an Epidermolysis bullosa simplex, einer genetisch bedingten Hauterkrankung, leidet, begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Einstellung von Leistungen aus der Pflegeversicherung.
Auf den Antrag des Antragstellers gewährte ihm die Antragsgegnerin, gestützt auf das MDK-Gutachten der Pflegefachkraft S vom 28. Oktober 2010, die im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von 86 Minuten ermittelt hatte, mit Bescheid vom 23. November 2010 Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 1. Oktober 2010.
Nachdem im Zuge des Nachprüfungsverfahrens die Pflegefachkraft G im MDK-Gutachten vom 5. Dezember 2012 nach Untersuchung des Antragstellers zu dem Ergebnis gekommen war, dass dessen Hilfebedarf in der Grundpflege fünf Minuten betrage, hob die Antragsgegnerin nach Einholung der sozialmedizinischen Stellungnahme der Dipl.-Med. Sch den Bewilligungsbescheid durch Bescheid vom 5. April 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 2013 mit Wirkung ab 1. Mai 2012 auf. Hiergegen hat der Antragsteller am 2. August 2013 bei dem Sozialgericht Potsdam Klage erhoben.
Den Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Sozialgericht Potsdam durch Beschluss vom 16. September 2013 mit der Begründung zurückgewiesen, zwar seien die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, jedoch überwiege das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht, da bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Pflege durch dessen Mutter auch bei vorübergehender Nichtzahlung des Pflegegeldes als gesichert anzusehen sei.
II.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Aufhebungsbescheid nicht angeordnet.
Gem. § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage - wie vorliegend nach § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG - keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Voraussetzung hierfür ist, dass das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Bescheides überwiegt. Zu dieser Abwägung ist der in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung entsprechend heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Das ist der Fall, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Oktober 2010, L 27 P 48/10 B ER, bei Juris).
Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung bestehen in dem genannten Sinne ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin die dem Antragsteller ursprünglich bewilligten Leistungen der Pflegestufe I aufhob.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für di...