Entscheidungsstichwort (Thema)
Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes. Zugangsfiktion. Absendevermerk. Widerspruchsfrist. Widerspruchsbescheid alleiniger Gegenstand der Klage. Rechtsschutzinteresse. Prozesskostenhilfe. Zeitpunkt der Entscheidungsreife. Arbeitslosengeld II. Aufhebung für die Vergangenheit. Einkommensberücksichtigung bei selbständiger Tätigkeit. Bestandskraft. Poststelle. Hilfebedürftigkeit. Selbstständige Tätigkeit. Berechnungsjahr. Hinreichende Erfolgsaussicht
Leitsatz (redaktionell)
Die Zugangsfiktion nach § 37 Abs. 2 SGB X setzt voraus, dass in den Behördenakten vermerkt ist, wann der Verwaltungsakt zur Post aufgegeben wurde. Unzureichend ist insoweit das Datum, an dem der Sachbearbeiter den Verwaltungsakt der Poststelle der Behörde zugeleitet hat, die den Versand durch ein Postunternehmen weiter veranlasst.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1, § 9 Abs. 1, § 2 Abs. 1; Alg-II-VO § 2a; SGB IV § 15; SGB X § 37 Abs. 2; SGG §§ 73a, 77, 84 Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 114, 117 Abs. 1 S. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. März 2010 geändert.
Den Klägern wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin ab dem 13. September 2010 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten bewilligt; Monatsraten oder Beiträge aus dem Vermögen sind nicht zu zahlen.
Gründe
Die zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Sozialgerichts (SG) Berlin ist begründet. Den miteinander verheirateten und eine Bedarfsgemeinschaft iS von § 7 Abs 3 Nr 1 iVm Abs 3 Nr 3 Buchst a Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bildenden Klägern ist Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihres im Tenor bezeichneten Prozessbevollmächtigten (§ 73a Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm § 121 Abs 2 1. Alt Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) zu gewähren, da sie nach ihren derzeitigen - hier mit Blick auf § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs 1 Satz 3 ZPO nicht näher darzulegenden - persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, die Kosten des Klageverfahrens auch nur teilweise oder in Raten aufzubringen (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 115 ZPO) und der Klage eine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 ZPO) im Zeitpunkt der Entscheidungsreife nicht abgesprochen werden kann. Dabei beurteilt das angerufene Gericht die Erfolgsaussicht regelmäßig in summarischer Prüfung des Sach- und Streitstandes ohne strenge Anforderungen, dh ohne abschließende tatsächliche und rechtliche Würdigung des Streitstoffs. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der PKH vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Für die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht reicht die “reale Chance zum Obsiegen" aus, nicht hingegen eine “nur entfernte Erfolgschance" (vgl Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Beschluss vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88, juris RdNr 26 = BVerfGE 81, 347, 357f). Auch bei nur teilweise zu bejahender Erfolgsaussicht ist in gerichtskostenfreien Verfahren (§ 183 SGG) - wie dem vorliegenden - PKH unbeschränkt zu bewilligen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, RdNr 7a zu § 73a; Knittel in Hennig ua, SGG, RdNr 13 zu § 73a).
Entscheidungsreife umschreibt den Zeitpunkt, zu dem die erforderlichen Entscheidungsgrundlagen vorliegen und das Gericht über das PKH-Gesuch entscheiden könnte und müsste. Sie tritt regelmäßig erst dann ein, wenn ein bewilligungsreifer Antrag vorliegt und dem Gegner darüber hinaus eine angemessene Zeit zur Stellungnahme (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 118 Abs 1 Satz 1 ZPO) gegeben worden ist.
Der für die Beurteilung der Erfolgsaussicht maßgebende Zeitpunkt der Entscheidungsreife ist hier am 13. September 2010 eingetreten. Erst an diesem Tag ist - nach Aufforderung durch den Senat - der Schriftsatz der Kläger vom 10. September 2010 eingegangen, mit dem sie erstmals den Anforderungen des § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 117 Abs 1 Satz 2 ZPO genügten (vgl hierzu und zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieser Anforderungen auch im sozialgerichtlichen Verfahren: BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 - 1 BvR 362/10, juris RdNr 15 mwN), indem sie dem Gericht im Kern deutlich gemacht haben, warum die von ihnen angefochtenen Ausgangsbescheide vom 18. November 2008 und 19. November 2008 aus ihrer Sicht ganz bzw teilweise rechtswidrig sind, so dass erst zu diesem Zeitpunkt ein vollständiger und damit bewilligungsreifer PKH-Antrag vorlag. Wie sich aus ihrem vor dem SG gestellten Antrag und nicht zuletzt aus ihrem Vorbringen im Beschwerdeverfahren ergibt, ist das Rechtsschutzbegehren der Kläger bei verständiger Würdigung (§ 123 SGG) nämlich nicht - entsprechend der Grundregel des § 95 SGG - auf die Aufhebung der Widerspruchsbescheide vom 23. Februar 2009 (den Kläger zu 1 betreffend: Bl 191ff des Bandes III der Behelfsverwaltungsakte ≪BehelfsVA≫, die Klägerin zu 2 betreffend: Bl 154f...