Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Angemessenheit der Unterkunftskosten. Unzumutbarkeit des Umzuges. Erkrankung. Alter. Wohndauer. Glaubhaftmachung. Berlin

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Glaubhaftmachung der Unzumutbarkeit eines Umzugs aus gesundheitlichen Gründen durch ein ärztliches Attest und zur Zumutbarkeit der Senkung der Unterkunftskosten bei über 60jährigen Hilfebedürftigen nach langer Wohndauer.

 

Orientierungssatz

Zur Angemessenheitsgrenze für die Unterkunftskosten nach § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 für einen 3-Personen-Haushalt in Berlin.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. August 2007 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Rechtsanwältin M B wird abgelehnt.

 

Gründe

Die zulässige (§§ 172 Abs. 1, 173 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) Beschwerde der Antragsteller hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung nur ergehen, wenn dies in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies erfordert zunächst, dass die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs, der durch die einstweilige Anordnung gesichert werden soll, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben (glaubhaft gemacht) sind (sog. Anordnungsanspruch). Ein solcher Anordnungsanspruch besteht nicht.

Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) sind Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen, soweit diese angemessen sind. Übersteigen die Aufwendungen für Unterkunft den angemessenen Umfang, so sind sie als Bedarf so lange zu berücksichtigen, wie es dem Hilfebedürftigen nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II).

Der Antragsgegner hat den Antragstellern Leistungen für Unterkunft und Heizung ab September 2007 nicht (mehr) in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen, weil diese das Maß des Angemessenen übersteigen. "Angemessenheit" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Mangels einer näheren Regelung durch eine Rechtsverordnung (vgl. § 27 Nr. 1 SGB II) greift der Senat zur näheren Bestimmung dessen, was als „angemessene Aufwendungen“ i.S.d. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusehen sind, zunächst auf die vom hier zuständigen kommunalen Träger erlassenen Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gem. § 22 SGB II der (B) Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz vom 7. Juni 2005 (AV Wohnen) zurück, die zwar das Gericht nicht binden, aber erkennen lassen, was der kommunale Träger für „angemessen“ hält, und dafür auch dem Gericht als Hinweis dienen können (Beschlüsse des Senats vom 31. Juli 2006 - L 14 B 168/06 AS ER -, 28. September 2006 - L 14 B 733/06 AS ER - und vom 15. März 2007 - L 14 B 1218/06 AS ER -). Nach Nr. 4 Abs. 2 der AV-Wohnen ist für den Drei-Personen-Haushalt der Antragsteller eine Warmmiete bis zu 542 € monatlich angemessen. Wegen der langen Wohndauer und des Alters des Antragstellers zu 2 (über 60 Jahre) hat der Antragsgegner diesen Richtwert um 10 % erhöht und sieht daher Wohnungskosten sogar in Höhe von 596,20 € als angemessen an. Der Senat hat keine Bedenken, sich dieser Bewertung insoweit anzuschließen, als er die jetzige Wohnung der Antragstellerin für unangemessen groß (111,12 qm) und - deshalb - zu teuer (768,07 € Brutto-Warmmiete) hält.

Diese Einschätzung wird durch die im Land Berlin geltenden Bestimmungen für den sozialen Wohnungsbau bzw. die Vergabe von Wohnberechtigungsscheinen gestützt. In B ist für eine aus drei Personen bestehende Bedarfsgemeinschaft eine 2,5 bis 3-Zimmer-Wohnung (vgl. Ziff. 8 Abs. 1 der zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz ≪WobindG≫ i.V.m. § 27 Abs. 1 bis 5 Wohnraumförderungsgesetz ≪WoFG≫ erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004 ≪Mitteilung Nr. 8/2004≫) mit einer Größe bis zu 75 qm (Abschnitt II Ziff. 1 Buchst a der Anlage 1 der WFB 1990idF der VVÄndWFB 1990) als angemessen anzusehen. Sodann ist der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Letztlich kommt es darauf an, dass das Produkt aus Wohnfläche und dem diesem Standard entsprechenden qm-Preis, das sich in der Wohnungsmiete niederschlägt, der Angemessenheit entspricht (so genannte Produkttheorie). Dabei ist der räumliche Vergleichsmaßstab für den Mietwohnungsstandard so zu wählen, dass dem grundsätzlich zu respektierenden Recht des Leistungsempfängers auf Verbleib in seinem sozialen Umfeld ausreiche...

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