Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Aussetzung des Verfahrens wegen Vorgreiflichkeit. Identität einer Rechtsfrage als Aussetzungsgrund
Orientierungssatz
1. Für die Annahme der Vorgreiflichkeit einer Rechtsfrage als Voraussetzung der Aussetzung eines Verfahrens reicht es nicht aus, wenn sich in einem anderen Verfahren zwischen denselben Verfahrensbeteiligten die gleiche Rechtsfrage stellt.
2. Auch wenn an zwei Sozialgerichten für aufeinander folgende Zeiträume streitige Verfahren zwischen denselben Verfahrensbeteiligten um die Frage der Anrechnung von Vermögen auf die Leistungsansprüche nach dem SGB 2 geführt werden, kommt eine Verfahrensaussetzung bei einem der beiden Gerichte in analoger Anwendung des § 114 SGG nicht in Betracht.
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. November 2011 aufgehoben.
Gründe
I.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit dem im Tenor bezeichneten Beschluss den Rechtsstreit bis zur Erledigung des Rechtstreits S 19 AS 1375/10 vor dem SG Darmstadt ausgesetzt. In beiden Verfahren nehmen die Kläger den Beklagten auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Anspruch, wobei es sich bei dem Verfahren vor dem SG Darmstadt um das ältere Verfahren handelt, in dem Ansprüche streitig sind, die einen Zeitraum betreffen, der vor dem streitigen Zeitraum des vorliegenden Rechtsstreits endet. Nach Auffassung des SG Berlin “dürfte„ das bezeichnete Verfahren vor dem SG Darmstadt für das vorliegende Verfahren vorgreiflich sein, weil hier wie dort die Frage streitentscheidend sei, ob die Kläger ein die Freibeträge übersteigendes Vermögen in Form von Fondsanteilen und Aktien besaßen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Kläger ist begründet. Zu Unrecht hat das SG Berlin das Verfahren ausgesetzt.
Grundlage der vom SG getroffenen Aussetzungsentscheidung kann hier - da die anderen in § 114 SGG Sozialgerichtsgesetz (SGG) normierten Aussetzungstatbestände ersichtlich nicht in Betracht kommen - nur § 114 Abs 2 Satz 1 1. Alt SGG sein, was das SG auch erkannt hat, wonach das Gericht die Verhandlung aussetzen kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet.Indes liegen auch diese Voraussetzungen nicht vor.
Zwar ist das vom SG in Bezug genommene Verfahren vor dem SG Darmstadt - entgegen der Auffassung der Kläger - noch anhängig, so dass der Aussetzungsbeschluss nicht schon aus diesem Grund aufzuheben ist. Rechtskräftig beendet ist bisher allein das dazu gehörige einstweilige Rechtsschutzverfahren (erstinstanzlich S 19 AS 1408/10 ER), nachdem das Landesozialgericht (LSG) Hessen die Beschwerde gegen den einstweiligen Rechtsschutz ablehnenden Beschluss des SG Darmstadt vom 23. November 2010 mit Beschluss vom 12. Januar 2011 (L 9 AS 653/10 B ER) zurückgewiesen hatte.
Die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit hängt aber nicht vom Bestehen oder Nichtbestehen eines “Rechtsverhältnisses„ ab, das Gegenstand des genannten Verfahrens vor dem SG Darmstadt ist. Die insoweit notwendige Vorgreiflichkeit setzt voraus, dass sich für die Entscheidung eine “Vorfrage„ stellt, die Gegenstand des anderen Rechtsstreits ist. Nicht ausreichend ist, wenn sich in dem anderen Verfahren die gleiche Rechtsfrage stellt, weil die Beantwortung einer Rechtsfrage kein Rechtsverhältnis iS des § 114 Abs 2 Satz 1 SGG darstellt (vgl Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11. Februar 2009 - 2 A 7/06, juris RdNr 34).
Die Vorgreiflichkeit des in Bezug genommenen Verfahrens kann auch nicht aus materiell-rechtlichen Gründen mit dem Argument bejaht werden, dass für den Fall, dass in jenem Verfahren Ansprüche auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit Rücksicht auf ein die Freibeträge der Kläger übersteigendes Vermögen verneint werden sollten, den Kläger in vorliegenden Verfahren dieses Vermögen nicht mehr anspruchsausschliessend entgegen gehalten werden könnte. Denn ein fiktiver Verbrauch von Vermögenswerten scheidet in Ermangelung einer gesetzlichen Grundlage - jedenfalls in der hier vorliegenden Konstellation, in der Leistungen erst beansprucht werden - aus; dies bedeutet, dass Vermögen solange zu berücksichtigen ist, als es noch vorhanden ist und nicht bis zur Freibetragsgrenze verbraucht wurde (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 25. August 2011 - B 8 SO 19/10 R, juris RdNr 27 mwN; zweifelhaft ist die Mehrfachanrechnung aber im Rahmen der Rückabwicklung eines Leistungsverhältnisses, vgl hierzu Uwe Berlit, Anmerkung zu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2011 - L 12 AS 4994/10, info also 2011,224, 225ff).
Auch eine entsprechende Anwendung des § 114 SGG scheidet hier aus. In der Praxis wird diese zwar für bestimmte Fallkonstellationen anerkannt und aus prozesswirtschaftlichen Gründen auch vom BSG in ständiger Rechtsprechung bejaht, insbesondere bei Fehlen einer Proz...