Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgung eines hörgeschädigten Versicherten mit einem Hörgerät durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Im Vordergrund der Versorgung eines gehörgeschädigten Versicherten mit einem Hörgerät steht der Ausgleich der beeinträchtigten Körperfunktion. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts.

2. Eine Stattgabe des Versorgungsantrags im einstweiligen Rechtsschutz stellt eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache dar, weil das anzupassende Hörgerät aus hygienischen Gründen im Fall des Unterliegens des Antragstellers im Hauptsacheverfahren nicht mehr für andere Versicherte verwendet werden kann.

3. Deshalb sind für den Anordnungsanspruch im einstweiligen Rechtsschutz die gleichen Anforderungen zu stellen wie im Hauptsacheverfahren. Ist in einem Hauptsacheverfahren ein medizinischer Sachverständiger einzuschalten, damit über den Versorgungsanspruch des Antragstellers abschließend entschieden werden kann, so ist die Bewilligung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen.

4. Dies gilt auch angesichts nur schwer rückgängig zu machender Nachteile zu Lasten der Krankenkasse unter dem Aspekt der Folgenabwägung.

 

Normenkette

SGG § 86b Abs. 2 Sätze 2, 4; ZPO § 920 Abs. 2, § 935; SGB V § 33 Abs. 1 S. 1, § 12 Abs. 1

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 4. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Oktober 2016 hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht den Eilantrag zurückgewiesen.

1. Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung, ihn eigenanteilsfrei mit dem Hörsystem Siemens Pure Binax 5bx zu versorgen. Im Hinblick auf dieses Hörgerät, das nach einem Kostenvoranschlag der Firma G Hörzentrum in L zu einem Betrag von 3.919,02 Euro (Kassenanteil 1.534,02 Euro, Eigenanteil 2.405,00 Euro) veräußert wird, ist jedoch noch kein Verwaltungsverfahren durchgeführt worden. Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2015 betrifft nämlich das vom Kläger seinerzeit begehrte Hörgerät Widex Clear 220 c2-FS. Ihre ablehnende Entscheidung begründete die Antragsgegnerin hier im Wesentlichen mit einem Vergleich der mit dem Gerät Widex Clear 220 c2-FS und dem eigenanteilsfreien Gerät Starkey Ignite 20 BTE 13 jeweils erzielten Messwerte im Rahmen des Freiburger Sprachtests.

Dem nunmehrigen Wunsch, mit dem Gerät Siemens Pure Binax 5bx versorgt zu werden, liegen der Umzug des Antragstellers nach Leipzig, eine neue vertragsärztliche Verordnung vom 5. Januar 2016 sowie die Konsultation eines neuen Hörgeräteakustikers zugrunde. Nunmehr wird die Antragsgegnerin die Messergebnisse für das Gerät Siemens Pure Binax 5bx einerseits und für ein eigenanteilsfreies Gerät andererseits zu würdigen haben. Dies ist bislang weder in dem anhängigen Klageverfahren noch im Eilverfahren erfolgt. Anderes könnte nur gelten, wenn die Antragsgegnerin den Antragsteller in ihren vorangegangenen Bescheiden kategorisch auf den Festbetrag verwiesen hätte, ohne die individuellen Messwerte für das begehrte Hörgerät in die Entscheidung einzubeziehen. Denn dann hätte die Antragsgegnerin entschieden, den Antragsteller grundsätzlich nur mit einem Festbetragsgerät versorgen zu wollen. So lag es hier aber gerade nicht, denn richtiger Weise hat die Antragsgegnerin ihrem Widerspruchsbescheid eine Würdigung der Messwerte der seinerzeit getesteten Geräte zugrunde gelegt. Deshalb steht es dem Antragsteller nicht frei, seinen Versorgungswunsch beliebig zu ändern und ein Eilverfahren zu betreiben.

2. Diese Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Oktober 2016 ist unbegründet, denn ein Anordnungsanspruch ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht (vgl. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Da mit den Hörgeräten der Ausgleich de...

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