Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Krankenversicherung: Durchsetzung einer Kostenübernahme für ein Arzneimittel im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Folgenabwägung als Entscheidungsgrundlage

 

Orientierungssatz

Besteht im Streit um die Übernahme von Medikamentenkosten durch die gesetzliche Krankenversicherung die Gefahr, dass sich vor einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache ein gesundheitlicher Schaden beim Versicherten realisieren kann, so ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren im Rahmen einer Folgenabwägung über eine vorläufige Gewährung des Anspruchs zu entscheiden. Droht dabei bei einer Therapieunterbrechung ein schwerer gesundheitlicher Nachteil (hier: Erblindung), so ist im Rahmen der Folgenabwägung dem Interesse des Versicherten der Vorrang vor den lediglich finanziellen Interessen der Krankenkasse einzuräumen (hier: vorläufige Kostenübernahme für den Off-label-use eines Arzneimittels).

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. April 2014 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Kosten die Behandlung des Antragstellers mit Remicade/Infliximab vom 24. Juni 2014 bis zum 31. Dezember 2014, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu übernehmen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 9. April 2014 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag des Antragstellers, der sachgerecht dahingehend auszulegen ist, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die Kosten für eine Behandlung mit Remicade/Infliximab zu übernehmen, zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache glaubhaft macht (§ 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).

Dem Sozialgericht ist darin zu folgen, dass zum jetzigen Zeitpunkt “offen„ ist, ob der Antragsteller einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Behandlung mit Remicade/Infliximab nach § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Verbindung mit §§ 135 Abs. 1 und 2 Abs. 1a SGB V hat. Nicht zu folgen ist dem Sozialgericht hingegen in der Rechtsfolge, die es aus diesem Sachstand zieht.

Ist der geltend gemachte Leistungsanspruch zwischen den Beteiligten im Streit, dürfen sich die Sozialgerichte bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫; 94, 166 ≪216≫; NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und ...

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