Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ausschluss von Ausländern (hier: polnische Staatsangehörige) von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses. Unionsbürger. Freizügigkeit. Europäisches Fürsorgeabkommen. vermutete Bedarfsdeckung

 

Orientierungssatz

1. Die Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und deren Familienangehörigen keine Leistungen nach dem SGB II erhalten, ist wegen vorrangiger Regelungen des Rechts der Europäischen Union auf die Antragsteller, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union sind, nicht anzuwenden, vgl. Festhaltung LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 27. April 2012 - L 14 AS 763/12 B ER.

2. Die frühere Einbeziehung eines Antragstellers in die beitragsunabhängigen Transferleistungen nach dem SGB II eröffnet nicht den persönlichen Anwendungsbereich im Sinne des Art. 2 Abs. 1 VO 883/2004.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2012 geändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird insgesamt zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für die Beschwerdeinstanz bewilligt und Rechtsanwältin L H beigeordnet.

 

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (nachfolgend: Antragstellerin), die 1967 geboren und polnische Staatsangehörige ist, gegenüber dem Antragsgegner und Beschwerdeführer (nachfolgend: Antragsgegner) einen einstweilig zu regelnden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 18. April 2012 hat.

Die Antragstellerin hatte am 11. September 2009 einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet, war am 22. September 2009 ohne Deutschkenntnisse und wohl als Analphabetin in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, erhielt am 11. Februar 2011 eine Bescheinigung gemäß § 5 FreizügG/EU und wurde am 10. Januar 2012 von ihrem Ehemann, von dem sie jedenfalls seit April 2010 getrennt lebt, geschieden. Sie und ihr Ehemann hatten als Bedarfsgemeinschaft jeweils Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezogen. Seit der Trennung von ihrem früheren Ehemann wohne sie ihren Angaben zufolge mietkostenfrei und vorübergehend in der Wohnung ihres Cousins. Vom 24. Oktober 2011 bis zum 31. März 2011 gewährte ihr der Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ihren am 28. Februar 2012 gestellten Weiterbewilligungsantrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 19. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2012 mit der Begründung ab, die Antragstellerin halte sich allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland auf und sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hiergegen hat die Antragstellerin die beim Sozialgericht Berlin anhängige Klage zum Aktenzeichen S 156 AS 10074/12 erhoben.

Auf den am 18. April 2012 beim Sozialgericht Berlin gestellten Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht den Antragsgegner mit Beschluss vom 10. Mai 2012 verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 18. April 2012 Regelleistungen nach dem SGB II in Höhe von 374 EUR monatlich bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30. September 2012, zu gewähren; im Übrigen hat es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Gegen den ihm am 11. Mai 2012 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 14. Mai 2012 beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Beschwerde eingelegt. Er macht geltend, die Antragstellerin sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe.

Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2012 zu ändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 17. April 2012 insgesamt abzulehnen,

hilfsweise,

die Auszahlung der Regelleistung aus dem angefochtenen Beschluss auf 80 v.H. zu beschränken,

Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen,

hilfsweise, für den Fall einer darlehensweisen Leistungsverpflichtung des Antragsgegners,

diesen im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung in gesetzlicher Höhe zu übernehmen.

Ferner beantragt die Antragstellerin,

ihr unter Beiordnung ihrer bevollmächtigten Rechtsanwältin Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Sie trägt ergänzend vor, derzeit einen Deutschkurs (“Deutsch Alphabetisierung„, Modul 1, vom 16. April 2012 bis zum 24. Mai 2012) zu absolvieren und eine Beschäftigung zu suchen.

Mit Beschluss vom 7. Juni 2012 hat der Vorsitz...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge