Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitssuche. Europarechtskonformität. britische Staatsangehörige. Anwendbarkeit des EuFürsAbk auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vorbehaltserklärung vom 19.12.2011. völkerrechtlich unwirksam. Leistungshöhe bei einer vorläufigen Leistungsgewährung im Eilverfahren. Wirkungen des Fürsorgeabkommens. Grundsicherung für Arbeitsuchende: Leistungsgewährung an EU-Ausländer

 

Orientierungssatz

1. Der Ausschluss des Leistungsbezugs für Grundsicherungsleistungen in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 auch für EU-Ausländer steht nicht im Widerspruch zu geltendem Europarecht.

2. Allerdings ist die Ausschlussregelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 nicht für Staatsangehörige solcher Staaten anwendbar, die vom Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens erfasst sind. Vielmehr ist für Angehörige von Mitgliedsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens der Zugang zu Grundsicherungsleistungen in Deutschland grundsätzlich eröffnet. Ein die Anwendbarkeit ausschließender Vorbehalt des Gesetzgebers ist insoweit unzulässig. Allerdings kann eine im Rahmen eines sozialgerichtlichen Eilverfahrens festgesetzte vorläufige Leistung unterhalb des gesetzlichen Regelsatzes festgesetzt werden (hier: 80 Prozent des Regelsatzes), wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile ausreicht.

3. Die Sozialgerichte sind im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens grundsätzlich nicht berechtigt, formelle Gesetze (hier: § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2) als unwirksam zu behandeln (entgegen LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. August 2011, Az.: L 15 AS 188/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. November 2010, Az.: L 34 AS 1501/10 B ER). Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn bei einer Berücksichtigung der Norm trotz der Bedenken des Gerichts bezüglich deren Wirksamkeit die Durchsetzung der Ansprüche des Betroffenen endgültig vereitelt würde.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. August 2012 abgeändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 01. September 2008 bis zur Entscheidung des Antragsgegners über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 03. Juli 2012, längstens bis zum 31. Dezember 2012 Leistungen in Höhe von monatlich 299,20 Euro zu zahlen.

Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - SGB II -. Sie ist britische Staatsangehörige und meldete sich am 14. Januar 2012 beim Bezirksamt F von B und erhielt dort eine Bescheinigung nach § 5 Gesetz über die allgemeine Feizügigkeit von Unionsbürgern - FreizügG/EU -. Sie übt keine Beschäftigung aus und lebt derzeit bei Bekannten. Zahlungen für eine Unterkunft hat sie nicht zu entrichten.

Auf ihren Antrag vom 03. Januar 2012 gewährte der Antragsgegner Leistungen zur Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II - in Höhe von monatlich 374,00 € für den Zeitraum vom 01. Januar bis 30. Juni 2012.

Den Weiterbewilligungsantrag vom 29. Juni 2012 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 03. Juli 2012 mit der Begründung ab, die Antragsgegnerin sei, nachdem die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich Leistungen nach dem SGB II einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen - EuFürsAbk - erklärt habe, nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB nunmehr vom Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen.

Hiergegen legte die Antragstellerin am 01. August 2012 Widerspruch ein und hat am selben Tag beim Sozialgericht Berlin beantragt, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Regelleistungen und Leistungen für Kosten für Unterkunft und Heizungen zu gewähren.

Mit Beschluss vom 13. August 2012 hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 01. August 2012 bis 31. Dezember 2012 Arbeitslosengeld II in Höhe von 374,00 € monatlich zu gewähren und im Übrigen den Antrag abgelehnt.

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II finde im Rahmen der Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf die Antragstellerin keine Anwendung, da diese als britische Staatsbürgerin aufgrund des EuFürsAbk vom Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. SGB II ausgenommen sei. Ein Anspruch auf Leistungen für den Bedarf “Unterkunft und Heizung„ habe die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht.

Am 15. August 2012 hat der Antragsgegner gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt. Er ist der Auffassung, die Antragsstellerin sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen. Selbst wenn der anderen Auffassung des Sozialgerichts zu folgen sei, sei eine Verpflichtung zur Gewährung der voll...

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