Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität. Nichtanwendung bei Geltung des Europäischen Fürsorgeabkommens. Fürsorgeleistungen. Nichtanwendung des von der Bundesregierung erklärten Vorbehalts
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist nicht europarechtswidrig. Die Vorschrift ist jedoch auf Staatsangehörige eines Vertragsstaates des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA; juris: EuFürsAbk) nicht anzuwenden, weil Art 1 EFA dies völkerrechtlich ausschließt. Die Gerichte sind im Rahmen des § 86b Abs 2 SGG grundsätzlich nicht berechtigt, formelle Gesetze als unwirksam zu behandeln. Nur ausnahmsweise, wenn das Gericht von der Rechtswidrigkeit einer innerstaatlichen Norm überzeugt ist, kommt Art 19 Abs 4 GG Vorrang vor Art 20 Abs 3 GG zu, mit der Folge, dass einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden kann.
2. Art 1 EFA schließt als unmittelbar geltendes, spezielleres Bundesrecht die Anwendung des Ausschlusstatbestandes für Staatsangehörige von Vertragsstaaten aus. Mit Art 1 EFA hat sich die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat verpflichtet, Staatsangehörigen anderer vertragsschließender Staaten, die sich im Staatsgebiet erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie Bundesbürgern Fürsorgeleistungen zu gewähren (vgl BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21).
3. Bei den Regelungen des SGB 2 zu Leistungen der Grundsicherung handelt es sich um solche der Fürsorgeleistung. Damit sind einem portugiesischen Staatsangehörigen, der glaubhaft über keine Mittel verfügt, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen des SGB 2 zu gewähren.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 06. Mai 2013 abgeändert und wie folgt gefasst:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 08. April 2013 bis zur Entscheidung des Antragsgegners über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. März 2013, längstens bis zum 30. September 2013, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 305,60 Euro zzgl. Leistungen für Kosten der Unterkunft längstens bis zum 30. Juni 2013 in Höhe von monatlich 175,00 Euro zu leisten.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - SGB II -. Sie ist portugiesische Staatsangehörige und hält sich nach eigenen Angaben seit Dezember 2012 zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie bewohnt aufgrund eines bis zum 30. Juni 2013 befristeten Mietvertrages ein Zimmer in B, für welches sie eine monatliche Miete in Höhe von 150,00 Euro zzgl. Betriebskostenpauschale in Höhe von 25,00 Euro zu entrichten hat.
Ihren Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II - lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. März 2013 mit der Begründung ab, die Antragstellerin sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen, weil sie lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche habe. Hiergegen erhob die Antragstellerin Widerspruch.
Am 08. April 2013 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin beantragt, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr umgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Unterkunfts- und Heizkosten fortlaufend ab Antragstellung zu gewähren.
Mit Beschluss vom 06. Mai 2013 hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 08. April 2013 vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30. September 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 382,00 Euro monatlich und ab dem 08. April 2013 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30. Juni 2013 Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 175,00 Euro monatlich zu zahlen.
Gegen den am 10. Mai 2013 zugestellten Beschluss richtet sich die am 27. Mai 2013 eingegangene Beschwerde des Antragsgegners. Er ist weiterhin der Auffassung, dass die Antragstellerin vom Leistungsbezug nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss vom 06. Mai 2013 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
Er beantragt weiter, die Vollstreckung aus dem Beschluss vom 06. Mai 2013 auszusetzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes zum Zeitpunkt der Entscheidung wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorganges des Antragsgegners verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
II.
Die zulässige B...