Entscheidungsstichwort (Thema)

Hilfebedürftigkeit. Erreichbarkeit. Folgenabwägung

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 2007 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet dem Antragsteller vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30. September 2007, spätestens jedoch bis zur Zustellung der Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ablehnenden Bescheid des Antragsgegners vom 31. Januar 2007, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 670,23 €, für März 2007 anteilig für die verbleibenden Tage vom Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses an, zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die gemäß §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 2007 ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag des Antragstellers vom 8. Februar 2007, ihm vom 20. November 2006 an Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren, insoweit zu Unrecht abgelehnt.

1.) Für die Gewährung von Leistungen ab Antragseingang bei dem Sozialgericht Berlin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an einem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde. Der Antragsteller hat - auch nach Erhalt der Entscheidung des Sozialgerichts, die unter anderem auf das Fehlen des Anordnungsgrundes gestützt war - keine Umstände vorgetragen, die einen Anordnungsgrund begründen können.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫, 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller jedoch nicht vorgetragen, sie sind auch nicht sonst ersichtlich. Soweit er insoweit unter Vorlage des Mahnschreibens seiner Vermieterin vom 26. Februar 2007 hinsichtlich aufgelaufener Mietschulden in Höhe von 1301,04 € eine Dringlichkeit geltend macht, vermag dieser Vortrag die Notwendigkeit des Erlasses einer einstweiligen Anor...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge