Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einstweiliger Rechtsschutz. Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Leistungen für die Vergangenheit. Einkommen aus selbständiger Tätigkeit
Orientierungssatz
1. In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt zu beurteilen, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.
2. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, wenn das einstweilige Anordnungsverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt. Hierzu gehört die Sicherung des Existenzminimums durch Leistungen nach dem SGB II (Vergleiche LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER).
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juli 2007 wird abgeändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 31. Oktober 2007, längstens jedoch bis zur Zustellung der Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. Mai 2007, zu den ihm mit diesem Bescheid gewährten 433,43 € weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 200,00 €, für September 2007 anteilig für die verbleibenden Tage vom Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses an, zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Die gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juli 2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.
Soweit der Antragsteller, dem der Antragsgegner bis zum 31. Oktober 2007 unter Anrechnung von Einkommen in Höhe von 200,00 € monatlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 433,43 € monatlich gewährt hat, sinngemäß jedenfalls Leistungen für den Zeitraum ab Antragstellung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senates begehrt, fehlt es an dem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung für die zurückliegenden Zeiträume erforderlich machen würde.
In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫, 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im V...