Entscheidungsstichwort (Thema)

Folgenabwägung. zweckbestimmte Einnahme. Existenzgründungszuschuss

 

Orientierungssatz

1. Zur Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nach dem Prinzip der Folgenabwägung dann zu verurteilen, wenn die Anrechnung einer Leistung (hier: Existenzgründungszuschuss) streitig und höchstrichterlich nicht geklärt ist (Anschluss an Beschluss des BVerfG vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 ff).

2. Die Folgenabwägung spricht für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ohne Anrechnung des Existenzgründungszuschusses, weil im Falle einer zu Unrecht erfolgten Ablehnung die grundgesetzlich gewährleistete Existenzsicherung des Antragstellers gefährdet wäre, während im umgekehrten Fall die Antragsgegnerin ihren Schaden ersetzt verlangen könnte.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2007 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch deren Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2007 ist gemäß §§ 172 Abs. 1 und 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Bewilligungszeitraum vom 5. Februar 2007 bis zum 30. April 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Anrechnung des von ihr bezogenen Existenzgründungszuschusses zu gewähren.

Für die Entscheidung des Senats in diesem Beschwerdeverfahren sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).

Im vorliegenden Fall entscheidet der Senat aufgrund einer Folgenabwägung. Denn die Frage, ob es sich bei dem Existenzgründungszuschuss nach § 421 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch um eine zweckbestimmte Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II handelt, die nicht als Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II berücksichtigt werden darf, ist umstritten. Während die von dem Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zitierten Landessozialgerichte diese Frage bejahen, handelt es sich nach Auffassung des 10. Senates dieses Gerichts bei dem Existenzgründungszuschuss nicht um eine privilegierte Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II, weil beide Leistungen der Unterhaltssicherung im weitesten Sinne dienten (Beschluss vom 6. Dezember 2005 - L 10 B 1144/05 AS ER -, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Rechtsfrage noch nicht entschieden. In dem Verfahren mit dem Aktenzeichen B 7 b AS 20/06 R, in dem diese Frage entschieden werden sollte, wurde die Revision nach Ladung zum Termin am 29. März 2007 zurückgenommen (Terminsbericht des BSG Nr. 15/07). Ein weiteres Parallelverfahren mit dem Aktenzeichen B 7 b 16/06 R ist noch anhängig. Da im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens derartige Rechtsfragen grundsätzlich nicht geklärt werden können, sondern dies dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss, beschränkt sich der Senat auf eine Folgenabwägung.

Diese Folgenabwägung führt zu der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung. Hierbei waren die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen S...

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