Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. vorläufiger Rechtsschutz in Zulassungssachen. keine Anstellung eines Arztes in einem MVZ bei Tätigkeit in einem anderen MVZ. Vertrauensschutz auf Anwendung außer Kraft getretenen Rechts. Verfassungsmäßigkeit. Zulassungsausschuss. Anrufung des Berufungsausschusses. Rechtswidrige Verzögerung einer Entscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Verpflichtung des Zulassungsausschusses zur Erteilung von Zulassungen oder Anstellungsgenehmigungen durch sozialgerichtliche Entscheidungen ist ausgeschlossen.
2. Zulassungsbewerber können vor einer Entscheidung des Zulassungsausschusses vorläufigen Rechtsschutz dadurch erhalten, dass der Zulassungsausschuss im Wege einstweiliger Anordnung zu einer Entscheidung bis zu einem von den Sozialgerichten zu bestimmenden Zeitpunkt verpflichtet wird.
3. Ein Anordnungsanspruch für eine solche einstweilige Anordnung ist nur dann gegeben, wenn der Zulassungsausschuss seine Entscheidung nachweislich rechtswidrig verzögert, und ein Anordnungsgrund nur dann, wenn dem Zulassungsbewerber hierdurch ein durch das Hauptsacheverfahren nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen würde.
4. Die Anstellung eines Arztes in einem MVZ kann nicht genehmigt werden, solange dieser mit Genehmigung der Zulassungsgremien mit einer vollen Arztstelle in einem anderen MVZ tätig ist.
5. Es dürfte aus rechtsstaatlichen Gründen nach Art 12 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes geboten sein, einen Anspruch auf Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung auch dann anzunehmen, wenn die Zulassung zwar nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zulassung in Kraft getretenen Recht nicht erteilt werden könnte, sie aber bei Inkrafttreten der neuen Vorschriften bei ordnungsgemäßer Handhabung des bisherigen Rechts hätte erteilt sein müssen.
Normenkette
SGB V § 95 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a, §§ 96-97; ÄrzteZV § 20 Abs. 3, § 36 Abs. 1, § 37 Abs. 1-2; SGG § 86b Abs. 2 S. 2; GG Art. 19 Abs. 4
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 22. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 283.800 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 22. Dezember 2011 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch den angefochtenen Beschluss rechtsfehlerfrei abgelehnt. Die Antragstellerin hat weder für die vor dem Sozialgericht geltend gemachten noch für die mit der Beschwerde modifizierten Ansprüche auf uneingeschränkte endgültige oder vorläufige Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung sowie auf Genehmigung der Anstellungen zweier Vertragsärzte einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können (vgl. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Das gleiche gilt auch für die (weiter) hilfsweise geltend gemachten Ansprüche auf Zulassung und Anstellungsgenehmigung unter Beifügung einer Nebenbestimmung sowie auf eine Verwaltungsentscheidung durch den Antragsgegner noch vor dem 31. Dezember 2011 im Umlaufverfahren oder im Rahmen einer Sondersitzung.
1.) Die mit dem Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gegen den Antragsgegner nach § 86b Abs. 2 SGG verfolgten Zulassungs- und Genehmigungsansprüche finden in den §§ 95, 96 und 97 des Sozialgesetzbuchs/Fünftes Buch (SGB V) keine Rechtsgrundlage: Diese Vorschriften schließen den begehrten vorläufigen Rechtschutz insoweit sogar schlechthin aus. Der Zulassungsausschuss kann nicht im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet werden, einen Arzt oder ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) vorläufig oder endgültig zur vertragsärztlichen Versorgung zuzulassen oder die Anstellung eines Arztes in einem MVZ zu genehmigen. Der Gesetzgeber hat das Zulassungsverfahren in §§ 96 und 97 SGB V so ausgestaltet, dass gegen alle Entscheidungen der Zulassungsausschüsse die am Verfahren beteiligten Personen oder Institutionen den Berufungsausschuss anrufen können (§ 96 Abs. 4 Satz SGB V). Diese Anrufung hat nach § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V ausnahmslos aufschiebende Wirkung, weil der Zulassungsausschuss abweichend von der Grundregel des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG gehindert ist, für eine von ihm erteilte Zulassung die sofortige Vollziehung anzuordnen. Dies ergibt sich aus § 97 Abs. 4 SGB V, der diese Entscheidungskompetenz ausschließlich dem Berufungsausschuss zuweist (Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, München 2008, § 16 RdNr. 44). Weder das Recht zur Anrufung des Berufungsausschusses noch die damit zwingend verbundene aufschiebende Wirkung dürfen durch Entscheidungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durch die Sozialgerichte überspielt werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. ...