Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Anspruch eines an einer schwerwiegenden Erkrankung leidenden Versicherten auf Versorgung mit Cannabis-Blüten. einstweiliger Rechtsschutz. Folgenabwägung

 

Orientierungssatz

1. Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wenn ua eine anerkannte entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht. . Als schwerwiegende Erkrankung gilt zB eine Bluterkrankheit oder eine HIV-Infektion.

2. Bei einer vom Gericht vorzunehmenden Folgenabwägung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ist dem Grundrecht des Versicherten auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Vorrang einzuräumen vor den möglicherweise eintretenden finanziellen Verlusten der Krankenkasse im Falle einer Klageabweisung in der Hauptsache.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2017 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet vom 29. März 2018 bis zum 29. März 2019, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, die Kosten für eine Versorgung des Antragstellers mit Cannabisblüten nach Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Verordnung zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das gesamte Verfahren zu tragen.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Die zulässige, fristgerecht am 22. Januar 2018 (Montag) eingegangene Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Dezember 2017 ist im Wesentlichen begründet. Das Sozialgericht hat den am 2. Oktober 2017 gestellten Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für seine Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zu übernehmen, zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten nämlich grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫; 94, 166 ≪216≫; NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 RdNr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 ≪73≫). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, das diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und h...

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