Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Anordnung. Folgenabwägung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger aus Rumänien oder Bulgarien. Europarechtskonformität
Leitsatz (amtlich)
Aus der EGV 883/2004 dürfte sich ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II für alle Unionsbürger (auch Staatsangehörige aus Rumänien und Bulgarien) nach den gleichen Maßstäben wie für Deutsche ableiten, selbst wenn das Aufenthaltsrecht nur auf der Arbeitsuche beruht.
Normenkette
SGG § 86b Abs. 2 S. 2; ZPO § 920 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; SGB II § 2 Abs. 1 S. 1, § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 4, Abs. 5 S. 1, §§ 8, 10 Abs. 1, § 22 Abs. 2 Nr. 1, § 24 Abs. 1, § 31 Abs. 1, § 31a Abs. 1; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 2 Nr. 1, § 3 Abs. 1-2, § 5; EGRL 38/2004 Art. 14 Abs. 4b, Art. 24 Abs. 1; EGV 883/2004 Art. 2; EGV 883/2004 Art. 3-4, 70; EStG §§ 67, 68 Abs. 1 S. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juni 2011 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 1. Oktober 2011 vorläufig bis zu einer Entscheidung über ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 31. März 2011, jedoch längstens bis zum 31. Dezember 2011, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II in Höhe von 107 EUR monatlich zuzüglich Unterkunftskosten in Höhe von 130 EUR monatlich zu erbringen.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für beide Instanzen bewilligt und die bevollmächtigte Rechtsanwältin L H beigeordnet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte der ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens beider Instanzen betreffend den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
Die am 27. Juni 2011 beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangenen Beschwerden der Antragstellerin mit den sinngemäßen Anträgen,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juni 2011 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 291 EUR monatlich sowie Kosten für die Unterkunft in Höhe von 195,33 EUR monatlich zu gewähren, und ihr für beide Instanzen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer bevollmächtigten Rechtsanwältin zu bewilligen,
hat im tenorierten Umfang Erfolg.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs sowie ein Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht sind. Ist dem Gericht eine hinreichende Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Juris). Insofern stellt Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 24). So liegt es hier angesichts der Existenzsicherungsfunktion der von der Antragstellerin nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) begehrten Leistungen.
Zwar steht einem Anordnungsanspruch der am 1990 geborenen, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 und 2 SGB II nach Erteilung einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU erwerbsfähigen und nach ihrem glaubhaftem Vorbringen auch hilfebedürftigen Antragstellerin b Staatsangehörigkeit der Wortlaut des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegen. Danach sind von Leistungen nach diesem Buch ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zwec...