Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Rentenversicherung: Hinterbliebenenrente. Vermutung einer Versorgungsehe

 

Orientierungssatz

1. Auch im Falle der Wiederheirat eines kranken Partners nach einer vorherigen Scheidung kann die der Gewährung einer Hinterbliebenenrente entgegenstehende Vermutung einer Versorgungsehe widerlegt werden, etwa wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls trotz der vorherigen Scheidung eine emotionale Verbundenheit zwischen den Partnern erhalten blieb und damit finanzielle Aspekte bei der Heirat erkennbar nicht vorrangig waren. Das gilt insbesondere auch dann, wenn im Zeitpunkt der Eheschließung zwar eine schwere Krankheit gegeben war (hier: Krebserkrankung), die Ehepartner jedoch subjektiv keine Kenntnis von dem objektiv lebensbedrohlichen Zustand hatten.

2. Einzelfall zur Vermutung einer Versorgungsehe.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 01. Oktober 2010 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2009 verurteilt, der Klägerin große Witwenrente ab 01. September 2008 zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten große Witwenrente ab 01. September 2008.

Die im August 1945 geborene unverheiratete Klägerin ist die Witwe des 1947 geborenen und am 09. August 2008 verstorbenen H J (Versicherter), mit dem sie seit dem 13. Juni 2008 verheiratet war. Beide waren bereits früher von 1972 bis 1984 miteinander verheiratet.

Der Versicherte bezog zuletzt ab 09. März 2008 Krankengeld. Die Klägerin, die seit wenigstens Januar 2007 als Angestellte beschäftigt war, erhielt ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt von 1.330 Euro.

Im September 2008 beantragte die Klägerin große Witwenrente. Sie gab an, die tödlichen Folgen der Krankheit seien bei Eheschließung nach ärztlicher Auffassung nicht zu erwarten gewesen. Die Heirat sei zur Sicherung der erforderlichen Betreuung/Pflege erfolgt. Sie fügte das Schreiben der Techniker Krankenkasse vom 23. Juli 2008 über die Bewilligung einer Arzneimitteltherapie außerhalb der zugelassenen Indikation und den an diese Krankenkasse gerichteten Bericht des Facharztes für Innere Medizin, Hämatologie und Internistische Onkologie Dr. M vom 09. Juni 2008 zur Kostenübernahme dieser Therapie bei.

Mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 lehnte die Beklagte die Gewährung von Witwenrente ab: Die Klägerin sei mit dem Versicherten nicht mindestens ein Jahr verheiratet gewesen. Besondere Umstände, die die gesetzliche Vermutung einer so genannten Versorgungsehe widerlegten, lägen nicht vor. In Anbetracht der Schwere der Erkrankung (inoperables Pankreaskarzinom, Lebermetastasen) bei drastischem Tumormarkeranstieg seit Mai 2008 seien die tödlichen Folgen der Erkrankung bei der erneuten Eheschließung sehr wohl bekannt gewesen. Anderweitige Motive, die auf einen von der Versorgungsabsicht abweichenden Beweggrund schließen ließen, seien nicht festzustellen gewesen.

Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, Grund für die Scheidung der 1972 geschlossenen Ehe seien unüberwindbare Probleme bei der Erziehung der von ihr mit in die Ehe gebrachten beiden Kinder gewesen. Nachdem die Kinder das Erwachsenenalter erreicht hätten, seien sich der Versicherte und sie wieder näher gekommen. Im November 2007 hätten sie beschlossen, wieder zu heiraten. Die Hochzeit sei für das Frühjahr 2008 geplant gewesen. Am 27. Januar 2008 sei der Versicherte stationär aufgenommen worden. Wenige Tage später sei Krebs diagnostiziert worden, weswegen am 07. Februar 2002 ein großer Teil der Bauchspeicheldrüse und die Milz entfernt worden seien. Daraufhin habe sich sein Zustand bis zur Entlassung am 22. Februar 2008 gebessert. Es sei ihnen ärztlicherseits gesagt worden, dass ein derartiger Krebs sehr selten operiert werden könne. Da dies beim Versicherten jedoch möglich gewesen sei, seien sie in der Hoffnung bestärkt worden, dass mithilfe der Chemotherapie die Krankheit zum Stillstand gebracht oder sogar überwunden werden könne. An den Heiratsplänen hätten sie festgehalten, zumal die Klägerin jetzt erst recht für den Versicherten habe da sein wollen. Sie habe ihn in allen Angelegenheiten unterstützt. Angesichts der Untersuchungsergebnisse vor jeder nachfolgenden Chemobehandlung habe für sie nicht der geringste Anlass bestanden, an einen so dramatischen Verlauf der Krankheit zu denken. Daran habe auch der Wechsel der Chemotherapie Anfang Juli 2008 nichts geändert, da es dem Versicherten den Umständen entsprechend gut gegangen sei. Erst ab dem 01. August 2008 habe sich sein Zustand ruckartig verschlechtert. Nachweise zu der für Frühjahr 2008 geplanten Hochzeit gebe es nicht. Die Familie sei selbstverständlich über das Vorhaben informiert gewesen. Seitens des Standesamtes sei mitgeteilt worden, man solle sich 4 bis 6 Wochen...

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