Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Rentenversicherung: Voraussetzung der Befreiung eines Syndikusanwalts von der Versicherungspflicht
Orientierungssatz
Eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht für einen als Syndikusanwalt tätigen Beschäftigten setzt voraus, dass der Beschäftigte von der Rechtsanwaltskammer gerade als Syndikusrechtsanwalt zugelassen wurde. Allein die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer und im entsprechenden Versorgungswerk, die auf einer früheren Zulassung beruht, genügt nicht zur Erteilung einer Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht. Der Anwendung dieser Regelung auch für Beschäftigungsverhältnisse, die vor dem Jahr 2016 eingegangen und beendet wurden und für die eine gesonderte Zulassung als Syndikusrechtsanwalt nicht mehr erfolgen kann, stehen dabei verfassungsrechtliche Bedenken nicht entgegen.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Juli 2018 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) für seine frühere juristische Tätigkeit in einem Unternehmen nach § 231 Abs. 4b des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI.
Der 1971 geborene Kläger ist Volljurist und war als zugelassener Rechtsanwalt seit dem 26. März 2002 Pflichtmitglied in der Rechtsanwaltskammer S und seit Mai 2005 in der Rechtsanwaltskammer B mit entsprechenden einkommensbezogenen Pflichtbeiträgen an das Versorgungswerk B. Auf seinen Antrag im Hinblick auf seine Rechtsanwaltstätigkeit in der Sozietät G wurde er von der Beklagten ab 1. April 2002 von der Versicherungspflicht in der GRV befreit (Bescheid vom 9. Juli 2002).
Vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2015 war der Kläger als Leiter der Rechtsabteilung bei der S als „Legal Counsel“ bzw. Rechtsanwalt angestellt. Die Geschäftsführung hatte der Rechtsanwaltskammer B die Nebentätigkeit als Rechtsanwalt zur Aufrechterhaltung seiner Zulassung mit Schreiben von Juli 2006 angezeigt. Seit Oktober 2015 war der Kläger (wieder) ausschließlich als selbständiger Rechtsanwalt tätig.
Am 19. Mai 2014 hatte der Kläger die (ex nunc) Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für seine Beschäftigung als Rechtsanwalt bei der S beantragt. Mit Bescheid vom 13. April 2015 lehnte die Beklagte den Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für die Beschäftigung bei der S ab. Die Pflichtmitgliedschaft im berufsständischen Versorgungswerk bestehe nicht wegen der Beschäftigung als Syndikusanwalt bei der S. Er stehe in einem festen Dienst- bzw. Anstellungsverhältnis als ständiger Rechtsberater und sei in dieser Eigenschaft (Syndikusanwalt) nicht als Rechtsanwalt tätig. Eine Befreiung sei für die Beschäftigung nicht möglich und könne auch nicht aus einer erteilten Vorbefreiung hergeleitet werden. Der Kläger erhob hiergegen am 15. Mai 2015 Widerspruch; das Widerspruchsverfahren ruht seither. Seit dem 1. Januar 2015 leistete der Kläger Rentenversicherungsbeiträge an die Beklagte neben einem ermäßigten Beitragssatz an das Versorgungswerk.
Am 14. März 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht in der GRV und die Erstattung zu Unrecht gezahlter Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 30. September 2015 durch Auskehrung an das Versorgungswerk B, hilfsweise die Befreiung vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2015.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für die in der Zeit vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2015 ausgeübte Beschäftigung des Klägers als Leiter der Rechtsabteilung bei der S ab mit der Begründung, die Voraussetzungen für eine rückwirkende Befreiung lägen nicht vor. Zugleich wurde der Antrag auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Pflichtbeiträge, die zu Recht gezahlt worden seien, abgelehnt (Bescheid vom 4. April 2016, Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2017).
Auf die nachfolgende Klage hat das Sozialgericht Berlin (SG) mit Urteil vom 11. Juli 2018 den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2017 aufgehoben und diese verurteilt, den Kläger vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2015 für die von ihm ausgeübte Tätigkeit bei der S rückwirkend von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien sowie für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis 30. September 2015 zu Unrecht gezahlte Pflichtbeiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte B auszukehren. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht als Rechtsanwalt aufgrund einer analogen Anwendung des § 231 Abs. 4b SGB VI in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB ...