Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Aufgabe des Tatsachengerichts. Heranziehung von ärztlichem Fachwissen. Gesamt-GdB-Bildung. Bewertung der Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die gesellschaftliche Teilhabe. kein Gesamt-GdB von 45. keine Fünfergrade. keine mathematische Aufrundung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. grundsätzlich keine GdB-erhöhende Wirkung eines Einzel-GdB von 10. kein genereller Ausnahmefall bei paarigen Funktionsbeeinträchtigungen. Betroffenheit des linken und rechten Kniegelenks
Leitsatz (amtlich)
Die vorzunehmende Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs 1 S 5 und Abs 3 S 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl BSG vom 16.12.2021 - B 9 SB 6/19 R = SozR 4-1300 § 48 Nr 40).
Die Bildung eines GdB von 45 ist nicht möglich (vgl zum Problem auch BSG vom 14.2.2001 - B 9 V 12/00 R = BSGE 87, 289 = SozR 3-3100 § 31 Nr 5). Denn gemäß § 152 Abs 1 S 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Auch gemäß Teil A Nr. 2 e) der Anlage zu § 2 VersMedV sind nur Zehnerwerte anzugeben.
Eine Aufrundung des GdB von 45 auf 50 ist auch deshalb nicht möglich, weil dies einer Rechenmethode entspräche, die nach Teil A Nr 3a der Anlage zu § 2 VersMedV für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet ist.
Orientierungssatz
1. Die Regelung in Teil A Nr 3 Buchst d DBuchst bb VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Anlage zu § 2 VersMedV), wonach sich bei der gleichzeitigen Betroffenheit von paarigen Gliedmaßen (zB beiden Beinen) die Funktionsbeeinträchtigungen besonders nachteilig aufeinander auswirken können, stellt nicht ohne Weiteres einen Ausnahmefall iS des Teil A Nr 3 Buchst d DBuchst ee VMG dar, wonach ein Einzel-GdB von 10 im Rahmen der Gesamt-GdB-Bildung im Grundsatz keine erhöhende Wirkung hat.
2. In diesem Sinne muss im Rahmen der Gesamt-GdB-Bildung keine weitere GdB-Erhöhung für die Funktionsbeeinträchtigung des anderen Kniegelenks (mit einem Einzel-GdB von 10) erfolgen, wenn bereits eine Beeinträchtigung des Hüftgelenks auf der anderen Seite (hier: mit einem GdB von 20) GdB-erhöhend berücksichtigt worden ist.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.
Zugunsten des 1961 geborenen Klägers hatte der Beklagte mit Bescheid vom 7. Oktober 2010 den GdB mit 40 wegen eines Kniegelenkersatzes rechts (Einzel-GdB 30) und einer Funktionsstörung des linken Hüftgelenkes (Einzel-GdB 20) festgestellt. Am 4. September 2019 beantragte der Kläger bei dem Beklagten einen höheren GdB und das Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr). Der Beklagte ermittelte medizinisch und zog insbesondere einen Entlassungsbericht der F-Klinik über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme des Klägers vom 24. Mai bis 14. Juni 2019 bei mit den Diagnosen einer periprothetischen Femurfraktur rechts bei Implantatversagen der femuralen Komponente und Osteolyse des Femurkondyle, Zustand nach Knie-Totalendoprothese (TEP) rechts 2007, Knie-TEP-Wechsel rechts auf eine zementierte Knie-TEP sowie Reposition und Fixation mittels 2-facher Drahtcerclage am 1. März 2019 und Zustand nach Hüft-TEP links 2010.
Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 9. Dezember 2019 einen höheren GdB als 40 und das Merkzeichen „G“ ab, wobei er je mit einem Einzel-GdB von 20 eine Funktionsstörung des linken Hüftgelenkes, eine Funktionsstörung des rechten Kniegelenkes und einen Kniegelenkersatz rechts berücksichtigte. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. April 2020 zurück, wobei er das Kniegelenksleiden unverändert bewertete, aber eine Funktionsstörung des rechten Hüftgelenkes und einen Hüftgelenkersatz links je mit Einzel-GdB von 10 bewertete.
Hiergegen hat der Kläger am 21. April 2020 Klage erhoben, die er auf die Feststellung eines höheren GdB beschränkt hat.
Das Sozialgericht hat Befundberichte bei dem Chirurgen S, dem Orthopäden Dr. Dr. P und dem Praktischen Arzt Dr. B eingeholt.
Das Sozialgericht hat bei dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. H ein orthopädisch-unfallchirurgis...