Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtlicher Entscheidungszeitpunkt bei unrechtmäßiger Vorenthaltung von Sozialleistungen. Einbeziehungspflicht des Hinterbliebenenrentenanspruchs in die Begrenzungsregelung. Verfassungsmäßigkeit des § 22b Abs. 1 S. 1 FRG n.F
Orientierungssatz
1. Die Frage, inwieweit Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten wurden, beurteilt sich nach dem zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Recht.
2. Der Gesetzgeber war von Verfassungswegen nicht gehindert, den Anspruch auf Hinterbliebenenrente in die Begrenzungsregelung des § 22b Abs. 1 S. 1 FRG n.F. (Fassung: 2004-07-21) einzubeziehen.
3. § 22b Abs. 1 S. 1 FRG n.F. verstößt auch nicht gegen die Verfassung, soweit darin eine rückwirkende Rechtsänderung enthalten ist, denn aufgrund der unklaren Rechtslage konnte sich bei der Klägerin kein schutzwürdiges Vertrauen bilden.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren, ob die Klägerin Zahlungen aus dem ihr dem Grunde nach zuerkannten Anspruch auf Hinterbliebenenrente verlangen kann.
Die am 1938 geborene Klägerin ist die Witwe des am 1992 in der ehemaligen Sowjetunion verstorbenen D A (im Folgenden: Versicherter). Sie siedelte am 21. Januar 2000 nach Deutschland über, wo sie als Spätaussiedlerin gemäß § 4 des Bundesvertriebenengesetzes - BVFG - anerkannt wurde. Mit Rentenbescheid vom 18. Januar 2001 wurde ihr Altersrente für Frauen auf der Grundlage von 25 Entgeltpunkten seit dem 1. Februar 2000 gewährt.
Mit Bescheid vom 6. Februar 2001 erkannte die Beklagte einen Anspruch auf Witwenrente dem Grunde nach an. Sie führte aus, die Berechnung und Zahlung einer Witwenrente könne nicht erfolgen, weil ausschließlich Entgeltpunkte für rentenrechtliche Zeiten nach dem FRG ermittelt worden seien. Nach § 22b des Fremdrentengesetzes - FRG - würden für anrechenbare Zeiten nach dem FRG für einen Berechtigten höchstens 25 Entgeltpunkte zugrunde gelegt. Diese würden bereits durch die Rente aus eigener Versicherung erreicht. Dieser Bescheid wurde bindend, ebenso wie ein die Rücknahme des Bescheides ablehnender Bescheid vom 24. Januar 2003.
Am 22. April 2004 beantragte die Klägerin “die Überprüfung des Rentenbescheides vom 24.01.2003 (Neufeststellung)„. Sie verwies auf das Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 30. August 2001 - B 4 RA 118/00 R - und führte ergänzend aus, die Rechtslage sei seit 2001 höchstrichterlich geklärt. Sie sei mit Urteilen des BSG vom 11. März 2004 - B 13 RJ 44/03 R, B 13 RJ 52/03 R, B 13 RJ 53/03 R, B 13 RJ 56/03 R - erneut bestätigt worden. Auch die unteren Gerichte folgten dieser Auffassung (Hinweis auf Sozialgericht - SG - Freiburg, Urteil vom 19. November 2002 - RA 3558/99 - ≪vollständiges Aktenzeichen nicht ermittelbar≫; SG Karlsruhe, Urteile vom 11. Februar 2003 - S 2 RA 4039/03 - und vom 28. April 2003 - S 14 RJ 3205/02 -; SG Dortmund, Urteil vom 11. Juni 2003 - S 2 RJ 106/02 -; Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Juli 2003 - L 13 RA 525/03 -).
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Mai 2004 / Widerspruchsbescheid vom 20. August 2004 ab. Zur Begründung führte sie aus, sie folge der Auslegung des BSG nicht. Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Zweck und Funktion des § 22b FRG gelte die Begrenzung auf 25 Entgeltpunkte auch, wenn neben einer Rente aus eigener Versicherung noch Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente bestehe.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben (eingegangen am 6. September 2004) und vorgetragen, weder nach altem noch nach neuem Recht gebe es eine gesetzliche Grundlage für die Begrenzung der beiden ihr zustehenden Renten auf 25 Entgeltpunkte. Die geänderte Fassung des § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG sei nach § 300 Abs. 1 und 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VI - nicht anzuwenden, weil die alte Fassung erst mit der Verkündung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21. Juli 2004 aufgehoben worden sei.
Unabhängig davon finde § 22b FRG neue Fassung - n.F. - hier keine Anwendung, weil die Vorschrift verfassungswidrig sei. Es sei rechtswidrig, dass sie rückwirkend zum 7. Mai 1996 in Kraft trete. Der Regelungsgehalt einer Vorschrift bestimme sich nach seinem objektiven Normverständnis (Hinweis auf BSG, Urteil vom 11. März 2004 - B 13 RJ 44/03 -). Der Gesetzgeber könne daher nicht (rückwirkend) “klarstellend„ bestimmen, wie eine Norm zu interpretieren sei. Dies obliege allein der Rechtsprechung. Die Anwendung von § 22 FRG n.F. verstoße gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und die vom Bundesverfassungsgericht zur Rückwirkung von Gesetzen ergangenen Entscheidungen, weil es sich bei der durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz eingeführten Norm gerade nicht um eine Kl...