Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Witwenrente. Sterbegeld. Sterbehilfe: kein Leistungsausschlussgrund im Sinne von § 101 Abs 1 SGB 7. Behandlungsabbruch eines Schwerstverletzten. Wachkoma. appallisches Syndrom. Arbeitsunfall. Wesentliche Ursache. Wille des Patienten
Leitsatz (amtlich)
Die strafrechtlich nicht sanktionierte Sterbehilfe (vgl BGH vom 25.6.2010 - 2 StR 454/09 = BGHSt 55, 191) in Form des mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen eines Schwerstverletzten erfolgten Behandlungsabbruches stellt keinen Leistungsausschlussgrund im Sinne von § 101 Abs 1 SGB 7 dar.
Normenkette
SGB VII § 8 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 1, §§ 65, 101 Abs. 1
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenleistungen nach dem Tod ihres Ehemanns LS (Versicherter).
Der 1943 geborene Versicherte war als Verwaltungsangestellter beim Bezirksamt Mitte - LuV (Leitungs- und Verantwortungsbereich) Gesundheit/ Betreuungsstelle - als Amtsbetreuer u.a. auch für eine Vielzahl von Koma-Patienten verantwortlich gewesen. Er erlitt am 07. September 2006, als er mit dem Fahrrad von seiner Arbeitsstelle auf dem Weg nach Hause war, einen von der Beklagten anerkannten Arbeitswegeunfall, indem er von einem herannahenden Motorrad erfasst wurde und mit dem Kopf auf der Bordsteinkante unbehelmt aufschlug. Hierbei zog er sich u.a. ein schweres Schädelhirntrauma mit Subdural- und Subarachnoidalblutung zu und verlor das Bewusstsein.
Der Befund der Verletzungsfolgen stellte sich letztlich wie folgt dar (vgl. Erstes Rentengutachten des Facharztes für Neurologie Dr. S vom 18. Februar 2008): Als Folge des Schädelhirntraumas bestand ein apallisches Syndrom (Wachkoma); willkürliche Reaktionen waren nicht mehr möglich. Der Versicherte war vollständig auf pflegerische Hilfe angewiesen. Die Extremitäten waren tetraplegisch. Wegen einer Dysphagie war der Versicherte seither mit einem Tracheostoma versorgt und wurde künstlich über eine Magensonde ernährt. Er war stuhl- und harninkontinent.
Der Versicherte wurde Ende 2006 zur zustandserhaltenden Pflege in ein Wachkomazentrum verlegt und unterdessen nicht nur stationär pflegerisch, sondern auch physiotherapeutisch, ergotherapeutisch und logopädisch behandelt; am fortbestehenden Wachkoma änderte sich nichts, vgl. etwa ergotherapeutischen Abschlussbericht vom 23. September 2008. Die Klägerin wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Bernau vom 19. März 2007 für alle Angelegenheiten des Versicherten zur Betreuerin bestellt.
Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 18. März 2008 folgende Arbeitsunfallfolgen an:
- apallisches Syndrom (Wachkoma)
- Tetraplegie (komplette Lähmung aller Extremitäten)
- Dysphagie mt Tracheostoma- und PEG-Versorgung
- Harn-/ Stuhlinkontinenz
nach Verkehrsunfall mit schwerem Schädelhirntrauma mit Subdural- und Subarachnoidalblutung, multiplen Schädelfrakturen und multiplen traumatischen Hirnkontusionen, stumpfem Thoraxtrauma, Rippenserienfrakturen II bis VI links, traumatischer Hämatopneumothorax beidseits und Milzkontusion. Sie gewährte dem Versicherten eine Verletztenrente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vom Hundert (v.H.). In der Folgezeit setzte die Beklagte die Verletztenrente wegen des Zusammentreffend mit der Heimunterbringung auf die Hälfte herab, vgl. Bescheid vom 01. Dezember 2009 und Widerspruchsbescheid vom 23. September 2010.
Das Unfallkrankenhaus B (UKB) - Klinik für Neurologie mit Stroke Unit und Frührehabilitation - stellte mit Bericht vom 29. März 2010 u.a. fest, dass eine positive Veränderung des Gesundheitszustands des Versicherten nicht mehr zu erwarten war. Es reifte in der Folgezeit bei der Klägerin der Entschluss, beim Versicherten die Versorgung über die Magensonde einzustellen. Sie beriet die Angelegenheit mit ihren erwachsenen Söhnen CSF. Sie und ihre Söhne hielten in einem mit “Aktueller Sachstand vom 09. Juli 2010„ überschriebenen und von ihnen unterschriebenen Vermerk u.a. fest:
“Da eine Patientenverfügung in schriftlicher Form nicht vorliegt, nach meinem Kenntnisstand und dem unserer Söhne, sich mein Mann zu Zeiten vor seinem Unfall wiederholt und ganz klar geäußert hat, niemals nur durch lebensverlängernde Maßnahmen weiterleben zu wollen, haben meine Söhne und ich uns in einem Gespräch am 04.07.2010 einvernehmlich entschieden, sein Leiden nach fast vier Jahren zu beenden und ihn sterben zu lassen.„
Die Klägerin durchtrennte nach Absprache mit der Heimleitung am 12. Juli 2010 die der Ernährung des Versicherten dienende Magensonde. Der Versicherte verstarb am 20. Juli 2010 an Unternährung, ohne nach dem Unfall das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Als Todesursache wurde Marasmus infolge Beendigung der Nahrungszufuhr festgestellt.
Die Beklagte lehnte ...