Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung einer im Ghetto ausgeübten Beschäftigung als Beitragszeit

 

Orientierungssatz

1. Eine im Ghetto ausgeübte Beschäftigung ist nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG als Beitragszeit zu berücksichtigen, wenn sie u. a. aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist. Für die Anerkennung genügt Glaubhaftmachung.

2. Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung liegt vor, wenn der Ghetto-Bewohner noch eine Dispositionsbefugnis zumindest in der Gestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne unmittelbare Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (BSG Urteil vom 3. 6. 2009, B 5 R 26/08 R).

 

Normenkette

ZRBG § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 3 Abs. 1 S. 1; SGB VI § 35 S. 1, § 50 Abs. 1, § 51 Abs. 4, § 99 Abs. 1 S. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 4; EVZStiftG § 11; WGSVG § 3 Abs. 1 S. 1; BEG § 1 Abs. 1; SGB X § 23 Abs. 1 S. 2

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Mai 2015 und der Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2013 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto.

Die 1924 in N, Ungarn, geborene Klägerin lebt in Israel, deren Staatsangehörigkeit sie auch besitzt. Am 13. April 2011 stellte sie bei der Deutschen Rentenversicherung Rheinland einen Antrag auf Gewährung einer Rente. Sie gab an, dass sie in einem Ghetto gewesen sei. In einem Fragebogen gab die Klägerin in englischer Sprache an, sich seit dem 17. April 1944 in der Verfolgung befunden zu haben, und zwar zunächst in Kisvarda (das ca. 14 km entfernt von ihrem Heimatort N liegt), anschließend, seit dem 30. Mai 1944, in Auschwitz und dann seit dem 29. Januar 1945 in Buchenwald. Sie habe sich in mehr als einem Ghetto aufgehalten und sei auch in einem Konzentrationslager gewesen. Die Bedingungen in den drei Orten seien sehr schwer gewesen, sie habe Zwangsarbeit in den Lagern unter unmenschlichen Bedingungen verrichtet. Sie habe an Kälte gelitten, weil sie keine Kleidung gehabt habe und an Hunger, sie habe gehungert. Sie habe den gelben Stern getragen. Sie gab an, im Ghetto gearbeitet zu haben, ohne hierzu weitere Angaben zu machen. Sie reichte einen Dokumentenauszug des Internationalen Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes in Arolsen (ITS) über den Aufenthalt in ehemaligen Konzentrations- und Arbeitslagern ein. Darin ist angegeben, dass sie am 17. April 1944 in Kisvarda verhaftet und am 12. Oktober 1944 von Auschwitz kommend ins Konzentrationslager Buchenwald/Kommando Altenburg eingeliefert worden sei. Hier sei sie noch am 29. Januar 1945 inhaftiert gewesen. Im Häftlingspersonalbogen sei vermerkt: “1. Mal eingeliefert; Auschwitz 30.5.1944 Einweisende Dienststelle: Gestapo„. Die Häftlingsnummer des Konzentrationslagers Auschwitz sei um den 25. Juli 1944 ausgegeben worden (Transport von RSHA [Reichssicherheitshauptamt]. Ungarn). In dem Fragebogen gab die Klägerin, gebeten, Auskunft über die Arbeit in einem Ghetto zu geben, an, dass sie seit dem 30. Mai 1944 in Auschwitz und Altenburg gearbeitet habe. Sie sei Bandarbeiter für Einzelteile für Panzer gewesen. Es habe sich um sehr schwere Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen gehandelt. Sie sei zu der Arbeit unter Androhung von Gewalt gezwungen worden.

Laut Auskunft der Bezirksregierung in Düsseldorf wurden für die Klägerin keine Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) geltend gemacht. In einem Formantrag “Antrag auf Altersrente für ehemalige Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz im Ausland„ gab ihr Prozessbevollmächtigter im Oktober 2011 an, die Klägerin habe von April 1944 bis Mai 1944 in der Krankenpflege gearbeitet. Der Arbeitgeber sei der Judenrat gewesen und die Arbeit habe im Ghetto Kisvarda stattgefunden.

In den Akten der Beklagten findet sich eine Bescheinigung der israelischen Nationalversicherung vom 23. Oktober 2011, wonach die Klägerin dort insgesamt 156 Versicherungsmonate zurückgelegt hat. Die Gesamtzahl der Versichertenmonate netto betrage 108. Seit dem 1. Dezember 1984 bezieht die Klägerin in Israel eine Altersrente.

In einem Fragebogen hatte die Klägerin im März 1993 gegenüber der Claims Conference u.a. angegeben, sich von März 1944 bis April 1944 im Ghetto Kisvarda, von April 1944 bis April 1945 im KZ Auschwitz und von April 1945 bis Mai 1945 im KZ Buchenwald aufgehalten zu haben. Im März 1944 sei sie in das Ghetto Kisvarda eingewiesen und im April 1944 in das KZ-Auschwitz deportiert worden. Im April 1945 sei sie nach Buchenwald überstellt worden, habe Zwangsarbeit geleistet und sei im Mai 1945 von den amerikanischen Truppen befreit worden.

In den Akten der Beklagten f...

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