Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Entschädigung auch für Gewalt in gewaltbelasteter Beziehung möglich. keine Versagung bei Wiederaufnahme einer wegen vorhergehenden Gewalttätigkeiten beendeten Beziehung. keine leichtfertige Selbstgefährdung bei Fortsetzung eines eskalierten Streits. Erkennbarkeit von Wutausbrüchen für das Opfer. objektive Entziehung der drohenden Gefahr ausreichend. keine leichtfertige Provokation bei unverhältnismäßiger Gegenreaktion

 

Orientierungssatz

1. Eine Gewaltopferentschädigung für eine Beziehungstat kann dem Opfer nicht allein deshalb aus Unbilligkeitsgründen versagt werden, weil es die wegen vorhergehenden Gewalttätigkeiten beendete Beziehung letztlich wieder aufgenommen und den Beteuerungen des Partners, es werde nicht wieder zu Gewalttaten kommen, Glauben geschenkt hat (hier vor dem Hintergrund, dass sich der Partner intensiv um das spätere Opfer bemühte, Reue zeigte und ankündigte, sich einer Therapie zu unterziehen).

2. Folgt das spätere Opfer nach einem Streit dem davoneilenden Partner und setzt die verbale Auseinandersetzung fort, handelt es sich nicht um eine leichtfertige Selbstgefährdung, wenn es für das Opfer in keiner Weise absehbar ist, dass der Partner ihm vor Wut plötzlich ins Gesicht schlagen würde.

3. Unternimmt das Opfer Handlungen, mit denen es sich einer drohenden Gefahr objektiv entziehen würde (hier: Verlassen der Wohnung nach eskaliertem Streit), liegt keine leichtfertige Selbstgefährdung vor. Auf die Motive des Opfers kommt es insoweit nicht an.

4. Eine erkennbare Gefühlswallung des Opfers kann der Annahme einer leichtfertigen Provokation des Täters entgegenstehen, wenn die Handlung nicht annähernd das Gewicht wie die spätere Tat hat (hier: Übergießen des eigenen Gesichts mit Nudelbrühe gefolgt von einer Körperverletzung durch den Partner).

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2011 verpflichtet wird, der Klägerin mit Wirkung ab dem 30. März 2011 wegen Folgen psychischer Traumen als Schädigungsfolgen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz, insbesondere eine Beschädigtenrente, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 70 zu gewähren.

Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die 1985 geborene Klägerin führte mit CB(im FolgendenB) seit 2005 eine Beziehung.

Das Amtsgericht T verurteilte B. mit Urteil vom 22. Mai 2009 wegen Körperverletzung der Klägerin in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem legte das Gericht folgenden Sachverhalt zugrunde:

1.

Anlässlich einer Auseinandersetzung am 4. Juli 2006 schlug B. in einer Parkanlage in B-W der Klägerin mit der flachen Hand auf die rechte Gesichtshälfte. Die Klägerin wurde durch den Schlag kurzfristig bewusstlos. Sie erlitt Schmerzen und Hörstörungen sowie Taubheitsgefühle.

2.

In der Nacht vom 13. zum 14. September 2006 verfolgte B. die Klägerin, die – nach einem Streit – gerade dessen Zimmer in der WG Br in B-M verlassen wollte, und stieß ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf, wodurch die Klägerin eine Gehirnerschütterung erlitt und dabei das Bewusstsein verlor.

3.

Anlässlich einer Auseinandersetzung in der Nacht vom 19. zum 20. März 2007 schlug B. in der Wohnung B der Klägerin in die linke Seite der Rippen. Die Klägerin erlitt eine Thoraxprellung.

Am 30. März 2011 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Versorgung nach dem OEG. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2011 mit der Begründung ab, zwar sei eine Gewalttat im Sinne des § 1 OEG nicht auszuschließen, jedoch sei die Versorgung unbillig und deshalb nach § 2 OEG zu versagen. Denn die Klägerin habe sich vernunftwidrig verhalten, da sie die Gefahr einer Körperverletzung hätte erkennen und vermeiden können.

Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte, u.a. der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B-E vom 26. März 2013, das Gutachten der Dipl.-Psych. W vom 31. März 2014 mit ergänzender mündlichen Stellungnahme eingeholt. Die Sachverständige hat dargelegt, bei der Klägerin beständen als Folge der Gewalttaten eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine sozialen Anpassungsstörung...

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