Entscheidungsstichwort (Thema)
Mangelnde Sachaufklärung für Merkzeichen RF führt zur Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Für die Entscheidung über das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) müssen Gericht und Verwaltung das Ausmaß der bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen aufklären. Das gilt insbesondere auch, wenn eine Harninkontinenz geltend gemacht wird.
2. Schon die Verwaltung verletzt in der Regel ihre Verpflichtung zur Sachaufklärung, wenn ohne eine ärztliche Untersuchung des Betroffenen das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens RF vom Schreibtisch aus verneint wird. Das Sozialgericht kann in einem solchen Fall von der Möglichkeit der Zurückverweisung an die Verwaltung nach § 131 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGG Gebrauch machen.
3. Entscheidet auch das Sozialgericht nur nach Aktenlage unter Zugrundelegung der vom Schreibtisch aus abgegebenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens, so verletzt es seine Verpflichtung zur Sachaufklärung nach §§ 103, 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG. Für etwaige medizinische Fachkenntnisse des Gerichts müssten die Grundlagen im Urteil dargelegt werden. Es ist sachgerecht, wenn das Landessozialgericht sich nach § 159 SGG für die Zurückverweisung an das Sozialgericht entscheidet.
4. Hat das Sozialgericht gem. § § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl der Sachverhalt nicht geklärt war, so leidet das Verfahren zusätzlich an dem wesentlichen Verfahrensmangel, dass der gesetzliche Richter entzogen worden ist, weil die Kammer in voller Besetzung hätte entscheiden müssen (§§ 12 Abs. 1 Satz 1, 125 und 159 SGG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
Normenkette
SGG § 103 S. 1, § 106 Abs. 3 Nr. 5, § 131 Abs. 5 Sätze 1-2, § 159 Abs. 1 Nr. 2; SGB IX § 69 Abs. 4
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).
Für die 1936 geborene Klägerin stellte der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 24. September 2008 unter Zuerkennung der Merkzeichen “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung), “B„ (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und “T„ (Teilnahme am Sonderfahrdienst) bei Ablehnung des Merkzeichens “RF„ einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest. Dem legte der Beklagte entsprechend den Feststellungen der Fachärztin für Sportmedizin, Ärztin für Chirotherapie - Sozialmedizin - in ihrem auf Grundlage einer körperlicher Untersuchung der Klägerin erstellten ärztlichen Gutachten vom 29. August 2008 folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):
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a) Kunstgelenkersatz der Hüfte links, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes beidseits, Kunstgelenkersatz des Knies rechts, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, chronische venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden) des Beines beidseits, Polyneuropathie (70), |
b) Herzleistungsminderung bei Herzrhythmusstörungen, sekundäre pulmonale Hypertonie (50), |
c) Wirbelsäulenfehlhaltung und Verschleiß, Bandschäden im Lendenwirbelsäulenbereich, Funktionsbehinderung der gesamten Wirbelsäule (40), |
d) mehrfach operiertes Brustdrüsenleiden links nach Ablauf der Heilungsbewährung (30), |
e) Hörminderung, Ohrgeräusche (30), |
f) Medikamentös behandeltes Schilddrüsenleiden (20), |
g) Sehminderung, eingepflanzte Kunstlinse beidseits (20), |
h) Depression (20), |
i) Diabetes mellitus (10), |
j) Bauchnarbenbruch (10), |
k) Harninkontinenz (10). |
Unter dem 2. April 2009 beantragte die Klägerin wegen Verschlimmerung und Hinzutreten neuer Behinderungen eine Neufeststellung bei Geltendmachung des Merkzeichens “RF„.
Der Beklagte holte eine gutachterliche Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin nach Aktenlage vom 29. April 2009 ein, der bei Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens “RF„ einen GdB von 100 feststellte und dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsinternen zugeordneten Einzel-GdB):
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a) Kunstgelenkersatz der Hüfte links, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes beidseits, Kunstgelenkersatz des Knies rechts, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseits, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenkes beidseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, chronische venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden) des Beines beidseits, Polyneuropathie (70), |
b) Herzleistungsminderung, Herzrhythmusstörungen, Herzklappenfehler, pulmonale Hypertonie, Bluthochdruck (50), |
c) Funktionsbehinderung der Wirbelsäul... |