Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. fachwissenschaftlicher Konsens iS der Off-Label-Use-Rechtsprechung des BSG. Zulassung der Arzneimittel Equasym und Methylphenidat für bestimmte Personengruppen. Nichtübertragbarkeit der BVerfG-Rechtsprechung auf Erwachsene mit ADHS

 

Leitsatz (amtlich)

Von fachwissenschaftlichem Konsens im Sinne der Off-Label-Use-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt; letzteres ist derzeit für die Behandlung der adulten ADHS noch der Fall.

 

Orientierungssatz

1. Die Arzneimittel Equasym und Methylphenidat sind zwar iS der Krankenversicherung verordnungsfähige Arzneimittel, jedoch beschränkt sich ihre Zulassung auf die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS.

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25 lässt sich auf den Fall einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Erwachsenenalter nicht übertragen, da diese Erkrankung trotz ihrer spürbaren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. November 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem methylphenidathaltigen Arzneimittel. Methylphenidathaltige Arzneimittel wie u. a. Equasym, Concerta, Ritalin oder Medikinet sind in Deutschland bzw. innerhalb der Europäischen Union (EU) insgesamt nur zur Behandlung der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter zugelassen, nicht aber bei Erwachsenen.

Die 1967 geborene, ihre 1996 geborene Tochter allein erziehende Klägerin bezieht Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII). Unter Bezugnahme auf Stellungnahmen ihrer behandelnden Ärzte Dr. B (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Kinderheilkunde) und Dr. K (Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie) vom Januar 2005 beantragte sie am 30. August 2006 die Kostenübernahme für das Medikament “Concerta retard 18 mg„ sowie die Feststellung, dass dieses Medikament künftig als Sachleistung zu erbringen sei. Nachdem die Beklagte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung - MDK - (Frau Dr. S) veranlasst hatte, teilte sie der Klägerin mit Schreiben vom 13. September 2006 mit, dass die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten engen Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden Einsatz verkehrsfähiger Arzneimittel (sog. Off-Label-Use) im Falle der Klägerin nicht vorlägen. Weder sei eine in die frühe Kindheit zurückgehende Kernsymptomatik einer ADHS nachgewiesen, noch seien die Behandlungsmöglichkeiten bzgl. der Begleiterkrankungen (depressive Symptomatik, ausgeprägte emotional instabile Persönlichkeitsstörung) ausgeschöpft, noch liege für die Situation einer spät einsetzenden ADHS im Erwachsenenalter eine qualifizierte Studienlage für die Langzeitanwendung vor, die ein ausgewogenes Verhältnis von nachgewiesenem Nutzen zu vertretbaren Risiken belege. Außerdem sei die Behandlung bereits durch die Arzneimittelrichtlinien Ziffer 20.1.l ohne Ausnahmeregelung ausgeschlossen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch, mit dem die Klägerin die Gewährung von Concerta retard 18 mg als Sachleistung sowie vorsorglich die Kostenerstattung für dieses Medikament gemäß § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) begehrte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. November 2006 mit im Wesentlichen gleich lautender Begründung zurück.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, sie sei auf ein Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat angewiesen, da ihre Lebensqualität anhaltend beeinträchtigt sei und sich ihre Erkrankung auch auf ihre Berufsperspektiven auswirke, da die letzte Möglichkeit für die Erstellung ihrer Diplomarbeit unmittelbar bevorstehe. Der Nachweis der ADHS im Kindesalter sei erbracht. Methylphenidat sei zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter in mehreren europäischen Staaten zugelassen. Erst durch ein methylphenidat-haltiges Medikament werde sie zum konzentrierten, aufmerksamen Arbeiten an dem Stoff der Diplomarbeit sowie den notwendigen weiteren Fachprüfungen befähigt. Erste Ergebnisse der sog. “EMMA-Studie„ der Medice Arzneimittel GmbH, einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III, seien auf einem Kongress am 24. November 2006 sowie in der Ärztezeitung vom 13. Dezember 2006 veröffentlicht worden. Hieraus ergebe sich die Wirksamkeit von Methylphenidat auch bei ADHS im Erwachsenenalter. Da das vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) mit Beschluss vom 20. Dezember 2005 mit einer Bewertung des Einsatzes von Met...

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