Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenerstattung. off-label-use. ADHS im Erwachsenenalter. Methylphenidat. fachwissenschaftlicher Konsens (verneint
Leitsatz (amtlich)
Von fachwissenschaftlichen Konsens im Sinne der Off-label-use-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt; letzteres ist derzeit für die Behandlung der adulten ADHS noch der Fall.
Orientierungssatz
Parallelentscheidung zum Urteil des LSG Berlin-Potsdam vom 12.11.2008 - L 9 KR 110/06, das vollständig dokumentiert ist.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 06. Juli 2004 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Arzneimittel, welches den Wirkstoff Methylphenidat enthält, sowie mit Amphetaminkapseln. Methylphenidat-haltige Arzneimittel wie z. B. Ritalin, Medikinet, Equasym oder AN1 sind in Deutschland bzw. innerhalb der Europäischen Union (EU) als Ganzer nur zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter zugelassen, nicht aber bei Erwachsenen.
Die 1960 geborene, ihren 1990 geborenen Sohn allein erziehende Klägerin bezog zumindest bis zum 30. September 2006eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund eines untervollschichtigen Leistungsvermögens für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Jahre 1999 stellte ihr behandelnder Arzt, der Zeuge Dr. phil. T (Facharzt für Psychiatrie), bei ihr eine ADHS sowie eine rezidivierende depressive Störung mit emotionaler Instabilität fest. Im Einzelnen stellte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest: Die Klägerin konnte sich nur für die Dauer von ca. 15 min konzentrieren, unterlag einem ständigen Bewegungsdrang und war sehr unruhig; sie neigte zu impulsiven Wutausbrüchen und zu starken Stimmungsschwankungen sowie einer niedrigen Stresstoleranz. Ferner litt sie an einer Störung des Schlaf- und Wachrhythmus sowie sozialen Defiziten, z. B. der Unfähigkeit, eigene und auch fremde Gefühle wahrzunehmen und einzuordnen. Der Zeuge behandelte die Klägerin in der Folgezeit mit Psychotherapie (verbunden mit strukturierendem Coaching) sowie methylphenidat-haltigen Arzneimitteln - zunächst Methylpheni TAD, zuletzt das Retardpräparat Concerta - und zusätzlich stimmungsstabilisierenden Medikamenten. Im Januar 2003 stellte der Zeuge die Klägerin mit ihrem Einverständnis auf das in den USA zur Behandlung der adulten ADHS zugelassene Arzneimittel Strattera (Wirkstoff: Atomoxetin, 40 mg pro die) um, was nach seinen Angaben zunächst dazu führte, dass die Klägerin - im Unterschied zu den zuvor verordneten Stimulanzien - ruhiger und weniger impulsiv und darüber hinaus auch keine Nebenwirkungen auftraten. Nach einigen Wochen entstehende Antriebsprobleme führten jedoch zu einer ca. 10 Tage dauernden heftigen Depression, sodass die Klägerin Strattera im April 2003 wieder absetzte.
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2002 beantragte die Klägerin unter Beifügung einer Stellungnahme des Zeugen T die Versorgung mit methylphenidat-haltigen Medikamenten bzw. Amphetaminsulfat, da dieser sich aufgrund zunehmender Regressansprüche seitens der Krankenkassen außerstande sehe, diese Medikamente weiterhin auf sein Risiko auf Kassenrezept zu verschreiben. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 2002 ab, da die von der Klägerin beantragten Stimulanzien für das Anwendungsgebiet bei Erwachsenen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bisher nicht zugelassen worden seien und die Voraussetzung für eine Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikationen nicht vorlägen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2003 zurück, da die vom Bundessozialgericht (BSG) für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (Off-Label-Use) aufgestellten Ausnahmekriterien im Falle der Klägerin nicht vorlägen. Ihr Krankheitsbild stelle keine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs oder Aids dar und sei auch nicht mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schmerzen, die innerhalb kurzer Zeit zu einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit führten, verbunden.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Auffassung vertreten, sämtliche vom BSG im Rahmen des Off-Label-Use geforderten Voraussetzungen lägen vor: ihre Lebensqualität sei ohne die in den letzten Jahren erfolgte konstante Therapie schwerwiegend eingeschränkt, es gebe keine medikamentöse Alternative und es bestehe in einschlägigen Fachkreisen ein Konsens über den Nutzen und die Wirksamkeit von methylphenidat-haltigen Arzneimitteln bei der Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter. Die Klägerin hat sich hierfür - neben einem von dem Zeugen für die (damalige) Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) erst...