Entscheidungsstichwort (Thema)

Bildung des Gesamtgrades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht

 

Orientierungssatz

1. Nach den §§ 2 Abs. 1, 152 Abs. 1 SGB 9 sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die Versorgungsmedizinischen Grundsätze heranzuziehen.

2. Aus einem Einzel-GdB von 20 für ein Asthma bronchiale, einem solchen von 20 für das Funktionssystem der oberen Extremitäten von 20, einem von 20 für Wirbelsäulenschäden und einem Teil-GdB von 30 für eine Fibromyalgie ist ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 5. August 2021 aufgehoben.

Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 13. Juni 2016 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in voller Höhe zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).

Der Beklagte hatte bei der 1961 geborenen Klägerin 2014 einen GdB von 40 festgestellt. Deren Verschlimmerungsantrag vom 13. Juni 2016 lehnte er mit Bescheid vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 ab. Hierbei legte er zuletzt folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

1. Asthma bronchiale (Einzel-GdB von 20),

2. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 20),

3. Funktionsstörung des linken Schultergelenks (Einzel-GdB von 20),

4. Funktionsstörung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB von 10).

Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Neuruppin hat die Klägerin einen GdB von 50 begehrt.

Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte das Gutachten der Chirurgin Dr. H vom 14. August 2019 eingeholt, die den Gesamt-GdB mit 40 bewertet hat. Folgende Funktionsbeeinträchtigungen hat die Gutachterin ermittelt:

1. Asthma bronchiale (Einzel-GdB von 20),

2. Zervikobrachial-, Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrome (Einzel-GdB von 20),

3. Funktionseinschränkung im Bereich der linken Schulter (Einzel-GdB von 20),

4. Funktionseinschränkung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB von 10),

5. Senk-/Spreizfüße, Arthrose im Großzehengrundgelenk (Einzel-GdB von 10),

6. psychische Erkrankung mit Anpassungsstörung und somatoformer Störung (Einzel-GdB von 20).

Ferner hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. L vom 9. Juli 2020, der den Gesamt-GdB mit 40 bewertet hat. Dieser Einschätzung hat er einen Ganzkörperschmerz mit muskulärer-koordinativer Dekonditionierung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung zugrunde gelegt.

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht den Facharzt für Neurologie Dr. M gutachterlich gehört. Im Gutachten vom 16. November 2020 hat der Sachverständige vorgeschlagen, den Gesamt-GdB mit 50 zu bemessen, und hierzu folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt:

1. Asthma bronchiale (Einzel-GdB von 20),

2. Wirbelsäulenschaden mit schwerer funktioneller Auswirkung in einem Wirbelsäulenabschnitt (Einzel-GdB von 30),

3. Funktionsstörung der linken Schulter (Einzel-GdB von 20),

4. Funktionsstörung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB von 10),

5. Funktionsstörung beider Hände (höher als ein Einzel-GdB unter 10),

6. Fibromyalgie (Einzel-GdB von 50),

7. Dysthymie, aktuell mit leichter depressiver Symptomatik (Einzel-GdB von 40).

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 5. August 2021 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 50.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 5. August 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 13. Juni 2016 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

Über die Berufung konnte ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter entschieden werden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit § 153 Abs. 1, § 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin hat Ansp...

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