Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Altfall. unangemessene Verfahrensdauer. verbundene Verfahren und wechselnde Verfahrensgegenstände. Gesamtbetrachtung als einheitliches Verfahren. Schwierigkeit und Bedeutung. außergewöhnliche Komplexität des Falles. Auslegung einer Prozesserklärung als Verzögerungsrüge. laufendes Ausgangsverfahren. Erfordernis einer unumkehrbaren Verzögerung und endgültig eingetretener Nachteile. Verzögerung durch zulässiges sowie widersprüchliches Prozessverhalten. keine Erhöhung des pauschalen Entschädigungsbetrags aus strafenden oder präventiven Gründen. sozialgerichtliches Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Wird über die Entschädigungsklage zu einem Zeitpunkt entschieden, zu dem das Ausgangsverfahren noch andauert, kommt die Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung nur in Betracht, wenn bereits eine unangemessene unumkehrbare Verzögerung des Ausgangsverfahrens sowie endgültig eingetretene Nachteile feststellbar sind (Anschluss an BGH vom 23.1.2014 - III ZR 37/13 = BGHZ 200, 20).
2. Ob eine Verzögerungsrüge vorliegt, ist durch Auslegung nach den Grundsätzen des § 133 BGB zu ermitteln.
Orientierungssatz
1. Ein Ausgangsverfahren, das sich aus verschiedenen Verfahrensteilen zusammensetzt, kann sich als ein einheitliches, einer Gesamtbetrachtung zugängliches Verfahren darstellen, wenn die (zu verschiedenen Zeitpunkten) einzelnen geltend gemachten materiell-rechtlichen Ansprüche auf ein und demselben Lebenssachverhalt basieren und so miteinander verwoben sind, dass eine isolierte Betrachtung jedes einzelnen Verfahrensgegenstandes nicht sachgerecht erscheint.
2. Von einem Kläger - auch im Rahmen zulässigen Prozessverhaltens - selbst herbeigeführte Verfahrensverzögerungen (hier: Einlegung von Rechtsmitteln, wiederholte Anrufung der Verfassungsgerichte und Anbringen zahlreicher Befangenheitsgesuche) fallen - jedenfalls soweit sie erfolglos bleiben - in seinen Verantwortungsbereich (vgl BSG vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 4).
3. Bei der Bewertung der überlangen Verfahrensdauer ist auch ein widersprüchliches Prozessverhalten des Klägers zu berücksichtigen, wenn sich der Eindruck aufdrängt, dass der Kläger durchaus gerne bereit war, den Aspekt der Verfahrensbeschleunigung als nachrangig anzusehen, wenn er sich von einem Abwarten im Hinblick auf den Ausgang des Prozesses Vorteile versprochen hat (hier durch Einholung weiterer Sachverständigengutachten).
4. Die Festsetzung eines höheren Entschädigungsbetrags nach § 198 Abs 2 S 4 GVG kann nicht mit strafenden oder generalpräventiven Einwirkungen auf den Staat begründet werden, da es allein auf den Ausgleich der dem Kläger entstandenen Nachteile ankommt.
5. Zur Einschätzung eines sozialgerichtlichen Verfahrens als außergewöhnlich schwierig und komplex.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen überlanger Dauer des vor dem Landessozialgericht Berlin bzw. Berlin-Brandenburg unter den Aktenzeichen L 11 Vh 7/94, L 13 Vh 7/94, L 13 VH 7/94 W00, L 13 VH 7/94 W04, L 13 VH 79/08, L 13 VH 2/11 ZVW und L 13 VH 5/13 geführten Verfahrens mit Blick auf die bis zum 21. Januar 2015 eingetretenen Verzögerungen eine Entschädigung in Höhe von 15.450,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, bzgl. eines Betrages von 13.550,00 € ab dem 02. März 2012 und bzgl. je weiterer 100,00 € ab dem 19. März, 19. April, 19. Mai, 19. Juni, 19. Juli, 19. August, 19. September, 19. Oktober, 19. November und 19. Dezember 2012, 19. Januar, 19. Februar, 19. März und 19. April 2013 sowie 02. März, 02. April, 02. Mai, 02. Juni und 02. Juli 2014 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Dauer des vorgenannten Berufungsverfahrens unangemessen war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu einem Drittel, die Klägerin zu zwei Drittel zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin (SG) unter den Aktenzeichen S 48 Vh 114/88, S 48 Vh 124/88, S 43/48 Vh 114/88 und S 45 Vh 180/93 sowie vor dem Landessozialgericht Berlin bzw. Berlin-Brandenburg (LSG) unter den Aktenzeichen L 11 Vh 7/94, L 13 Vh 7/94, L 13 VH 7/94 W00, L 13 VH 7/94 W04, L 13 VH 79/08, L 13 VH 2/11 ZVW sowie L 13 VH 5/13 geführten Verfahrens, das derzeit beim Bundessozialgericht (BSG) unter dem Aktenzeichen B 9 V 12/15 B anhängig ist. Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 10. September 1988 erhob die im April 1934 geborene Klägerin des Entschädigungsverfahrens (im Folgenden: die Klägerin) unter Berufung auf eine ihr erteilte Generalvollmacht im Namen ihrer Mutter F M L (im Folgenden: F.M.L.) eine Klage vor dem SG, die zur Registrierung von Verfahren unter den Aktenzeichen S 48 Vh 114/88 und S 48 Vh 124/88 führte.
Hintergrund der Rechtsstreitigkeiten war, dass der 1901 geborene Ehemann der F.M.L., S. L. (im Folgenden: S.L.), nach englischer Kriegsgefangenschaft und Internierung im Jahre 1946 in ...