Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung des klägerischen Begehrens im Sozialgerichtsverfahren unter Berücksichtigung der Dispositionsmaxime

 

Orientierungssatz

1. Der Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens wird entsprechend der Dispositionsmaxime vom Kläger vorgegeben. Dabei ist von dem im vorausgegangenen Verwaltungsverfahren gestellten und gfs. ganz oder teilweise abgelehnten Verwaltungsakt auszugehen. Bei Zweifeln über die Auslegung des klägerischen Begehrens ist das Günstigkeitsprinzip anzuwenden. In Versorgungsrechtsstreitigkeiten ist davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung des Kenntnisstandes im Zeitpunkt der Entscheidung umfassend Leistungen beantragt werden.

2. Zwingende Prozessvoraussetzung ist, dass vor Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes die Sozialverwaltung mit dem konkreten Anliegen befasst wird und deren Entscheidung in einem Vorverfahren überprüft wurde. Ohne Vorbefassung der Behörde fehlt es am Bedürfnis für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Oktober 2006 wird zurückgewiesen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtstreits für das Sozialgerichtsverfahren in erster Instanz zu zwei Dritteln zu erstatten.

Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Bewertung von Gesundheitsstörungen als Folgen rechts-staatswidriger Strafhaft in der DDR und über den Umfang von darauf begründeten Versorgungsleistungen nach dem Häftlingshilfegesetz und dem BVG.

Die 1953 geborene Klägerin erlangte in der DDR den Abschluss als Diplomlehrerin für Polytechnik und arbeitete in diesem Beruf. Sie ist Mutter dreier Kinder; der jüngste Sohn wurde im Mai 1985 geboren. Sie erlitt in der DDR in der Zeit vom 12. Mai 1988 bis 15. März 1989 eine rechtsstaatswidrige Haft und wurde am 15. März 1989 in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Die Bescheinigung nach § 10 Abs 4 Häftlingshilfegesetz (HHG) wurde ihr am 24. Juli 1989 erteilt. Sie beantragte am 28. April 1989 beim Beklagten als Versorgungsleistung eine Badekur und füllte am 24. Mai 1989 den Formularantrag auf Versorgungsleistungen aus. Die Haft habe bei ihr zu Gesundheitsstörungen in Form von depressiven Störungen, nervlicher Instabilität, Rückenbeschwerden und Beschwerden am rechten Handgelenk geführt. Nach medizinischen Ermittlungen erteilte der Beklagte am 4. Mai 1990 einen Teilbescheid mit dem er als Schädigungsfolge rechtsstaatswidriger Haft anerkannte: ein depressives Syndrom; der Grad der dadurch bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage weniger als 25 v H. Die Klägerin habe Anspruch auf Heilbehandlung; die Durchführung einer Psychotherapie werde empfohlen. Zur abschließenden Entscheidung über den Antrag sei noch eine orthopädische Untersuchung erforderlich. Der Beklagte bewilligte in der Folgezeit der Klägerin mehrfach Badekuren. Er nahm weitere Ermittlungen auf dermatologischem, chirurgischem, augenärztlichem und internistischem Fachgebiet vor. Mit dem auf den 9. August 1993 datierten Bescheid lehnte der Beklagte die Feststellung weitergehender Schädigungsfolgen als im Teilbescheid ab. Der Teilbescheid sei nunmehr abschließend gültig. Die Klägerin hat bestritten, von diesem Bescheid vor Januar 1995 Kenntnis erlangt zu haben.

Mit Schreiben vom 29. November 1994 beantragte die Klägerin einen Gesamtbescheid über die Schädigungsfolgen zu erhalten. Ihr depressives Syndrom stelle sich weit stärker dar als die im Teilbescheid anerkannte MdE von 20 v H. Krankheitsbedingt sei eine Berufstätigkeit weitgehend ausgeschlossen. Der Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 4. Januar 1995 mit, dass er das Schreiben als Verschlimmerungsantrag werte, weil eine abschließende Entscheidung mit dem Bescheid vom 9. August 1993 gültig ergangen sei. Er forderte verschiedene medizinische Unterlagen an (u a Befundbericht der behandelnden Nervenärztin Dr. M vom 14.03.1995, versorgungsärztliches Gutachten Dr. H vom 27.07.1995). Mit Bescheid vom 25. September 1995 lehnte der Beklagte eine Änderung der erfolgten Feststellungen ab, weil sich das anerkannte Versorgungsleiden nicht verändert habe. Dies ergebe sich aus dem Kurbericht, dem Ergebnis der versorgungsärztlichen Begutachtung und anderen ärztlichen Unterlagen.

Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 12. Oktober 1995. Trotz Stabilisierung in ihrem Leben habe sich ihr psychischer Zustand verschlechtert. Es bestünden ein allgemeiner psychophysischer Erschöpfungszustand, erhebliche Antriebstörungen, depressive Verstimmungen, nächtliche Alpträume und Phobien, insbesondere vor Menschenansammlungen. Dies sei auf das Hafttrauma zurückzuführen. Nach Einholung eines Befundberichts von der behandelnden Gynäkologin wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 1996 zurück.

Mit ihrer dagegen gewandten Klage hat die Klägerin z...

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